Die Schlange reicht wieder bis zum Schlemmerfilet Bordelaise: Netto schafft Selbstscanner-Kassen ab

Du darfst kein Paradies erwarten

Vor einiger Zeit ist an dieser Stelle einmal empfohlen worden, zum Einkaufen im Netto-Markt an der Linde einen Wälzer wie beispielsweise Uwe Johnsons Jahrestage mitzunehmen, um die Zeit in der Schlange an der Kasse sinnvoll zu nutzen. Doch dann kam im Zuge einer lange überfälligen Modernisierung des Ladens eine Neuerung, die hier bejubelt worden ist: Die Geschäftsleitung von Netto entschied sich, trotz einer teilweise etwas prekär aufgestellten Klientel in der Filiale in der Klever Oberstadt Selbstscanner-Kassen aufzustellen. Die Verantwortung für den ordnungsgemäßen Abrechnungsprozess wurde also auf den Kunden übertragen, der sich in der Perspektive der Netto-Manager als mündiger Bürger erweisen sollte. Doch nun ist die eine Do-it-yourself-Kasse wieder demontiert, und die Schlangen in dem Laden reichen häufig wieder bis zum Schlemmerfilet Bordelaise und zu den anderen Tiefkühlspezialitäten, die weit hinten in den Geschäftsräumen angeboten werden.

Zeit also für neue Lektüre in der Warteschlange, und warum da nicht einmal zum 300. Todestag des Königsberger Philosophen Immanuel Kant zur „Kritik der praktischen Vernunft“ greifen und analysieren, inwieweit die Lektüre dieses Buches dem Netto-Management das Kassen-Desaster erspart hätte.

Man kennt Kant als Philosoph der Aufklärung, und von ihm selbst stammt die Definition, dass „Aufklärung […] der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit“ ist. Als unmündig gilt ein Mensch für Kant, wenn er sich seines Verstandes nicht ohne Anleitung eines anderen bedienen kann. Selbst verschuldet ist diese, wenn der Mensch zu träge und zu feige ist, seinen Verstand zu nutzen. Kant: „Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! Ist also der Wahlspruch der Aufklärung.“

Was ist Aufklärung?

Um die Entwicklung an der Kasse des Netto-Marktes besser zu verstehen, sollte man sich auch noch zwei der (vier) zentralen Fragen ins Gedächtnis rufen, die nach Kants Auffassung zu beantworten die Aufgabe einer engagierten Philosophie sein sollte. Die eine dieser Fragen lautet: Was soll ich tun? Die andere: Was darf ich hoffen?

Die Frage nach dem, was zu tun ist, hat das Netto Management folgendermaßen beantwortet: „Wir stellen eine Selbstscanner-Kasse in Kleve auf.“ Aber welcher Gedanke stand dahinter? „[…] handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde“, das ist der kategorische Imperativ für den Königsberger Philosophen. Nun wird das Netto-Management sicherlich gesehen haben, dass Selbstscanner-Kassen bei Albert Hein in Holland schon seit langem funktionieren und selbst Aldi und Edeka diese in Deutschland eingeführt haben. Vielleicht haben sie also das allgemeine Gesetz in Richtung Einführung von Selbstscanner-Kassen gedeutet. Wahrscheinlicher aber ist, dass sie (Adam Smith‘ Ideen folgend) ausbildungsgemäß Dollarzeichen in den Augen hatten und Arbeiten auf die Kunden übertrugen, die sonst Personal auszuführen hätte, das dann wiederum anständig entlohnt werden müsste.

Ist das Aufklärung?

An dieser Stelle muss darauf hingewiesen werden, dass der kategorische Imperativ ohne Freiheit unmöglich ist. Wenn der Mensch nach dem Sittengesetz handelt, so ist er von sinnlichen, auch triebhaften Einflüssen unabhängig und daher nicht fremdbestimmt, sondern autonom. Dies muss im Zusammenhang mit den zur Zeit Kants weit verbreiteten Meinungen zur Willensfreiheit des Menschen gesehen werden. Beispielsweise war der Philosoph Hume der Ansicht, der Mensch sei ganz und gar ein natürliches Wesen, das ausschließlich Kausalketten unterworfen sei, denen auch die übrige Natur unterliege. Kant hingegen betrachtet den Menschen aus doppelter Perspektive. Er unterliege auch den Naturgesetzen, sei jedoch zugleich auch ein Wesen, welches sich an moralischen Prinzipien orientieren und den Gesetzen folgen kann, die die Vernunft sich selbst gibt. Damit gehört der Mensch für Kant dem „Reich der Freiheit“ an.

Dies ist wichtig. Ein freier Wille ist für Kant nur ein freier Wille, wenn er unter sittlichen Gesetzen stattfindet. Haben die Betriebswirte in den Chefetagen von Netto die sittlichen Gesetze aus den Augen verloren, als sie die Selbstscanner-Kassen einführten? Tatsache ist, dass nun das Handeln bei denen lag, die brav einen Strichcode nach dem anderen über den Scanner zogen – oder eben nicht. Eine kurze Befragung des Personals jedenfalls führte zu dem Ergebnis, dass es bei der Kundschaft offenbar Missverständnisse darüber gab, wie viele Waren tatsächlich zu bezahlen waren.

Möglicherweise handelte es sich dabei um viele kleine egozentrische Akte, mit denen sich Individuen in einem als befremdlich empfundenen spätkapitalistischen Umfeld zumindest einen kleinen Vorteil verschaffen wollten, in Summe entwickelte sich daraus aber möglicherweise ein großer sozialrevolutionärer Wille, der sich – zugespitzt ausgedrückt – vielleicht so fassen lässt: „Wenn wir schon alle ausgebeutet werden, dann wenigstens menschenwürdig. Mit einem weiteren Opfer an der Kasse, das unser Schicksal im Grunde teilt.“ So gesehen, waren die Selbstscanner-Kassen die Erlaubnis, sich selbst auszupeitschen. Wer aber macht S/M-Kapitalismus freiwillig mit?

Das führt uns zur zweiten Frage: Was darf ich hoffen?

Und hier muss die Redaktion von kleveblog eingestehen, Kant vor der Veröffentlichung des vorigen Netto-Beitrags nicht genau genug gelesen zu haben. Während sich hier ein unbekümmerter Fortschrittsglaube Bahn brach, an dessen Ende womöglich der Traum von einem kapitalistische Paradieszustand stünde, sieht Kant im Ablauf der Geschichte ein Abbild des Menschen, der frei ist. Aufgrund dieser Freiheit kann man in der Geschichte keine Regelmäßigkeiten oder Weiterentwicklungen etwa in Richtung Glückseligkeit oder Vollkommenheit erkennen, weil der Fortschritt keine notwendige Voraussetzung zum Handeln ist. Vernunft entwickelt sich im Zusammenleben der Menschen.

Und so war es vielleicht in Summe ein großer Akt der Vernunft, eine betrübliche Fehlentwicklung in unserer konsumistischen Welt zumindest so lange zurückzudrehen, bis sich eine bessere Lösung findet, als sich selbst zu demütigen. Das wird nicht das Paradies sein. Im menschlichen Leben ist Kants Meinung nach ohnehin nicht das volle Glück, sondern eben nur die „Selbstzufriedenheit“ erreichbar.

Was man tut, soll an der Sittlichkeit orientiert sein. Für Kant gehört es zu den sittlichen Pflichten, das Glück anderer Personen durch Hilfsbereitschaft und uneigennütziges Handeln in Freundschaft, Ehe und Familie zu befördern.

Lasst uns daran arbeiten!

***

Netto spielt in der kleveblog-Berichterstattung seit langem eine wichtige Rolle. Hier eine kleine Auswahl früherer Stücke:

Mit Netto in die Zukunft: 1. Selbstscanner-Kasse in Kleve

Schöner Einkaufen: Der neue Netto an der Linde im Komsumtest

Materialien zu einer fundierten Kritik des Kapitalismus

Deine Meinung zählt:

17 Kommentare

  1. 17

    @15

    UND dabei unterhielt sich die Kassierer/in noch mit einem.

    Heutzutage bevorzuge ich aber SB-Kassen. Warum? Ich scanne schneller als das Kassenpersonal .. (Ausnahme Aldi. Die sind immer noch fix)

     
  2. 16

    @ 12:
    ja, manchmal ist es besser, die verstaubte, verbale Goldwaage aus dem Keller zu holen 😉

    Benno

     
  3. 15

    Früher als noch nicht jede Ware einzeln mit ihrer DNA erfasst werden musste waren die Kassen bei Aldi überhaupt kein Problem.

    Das Band lief mit der gefühlten Geschwindigkeit von 30hm/h , die Kassiererin guckte nur aufs Band und tippte mit irrer Geschwindigkeit, ohne auf die Tasten zu gucken, die Preise in die Kasse.

    Ich fand das damals schon Wahnsinn was die Kassiererinnen da für ne Ausbildung hatten. War eine Freude denen zuzusehen.

    Hat sich wie gesagt alles geändert seitdem jede Ware mit den Händen angefasst und über den Scanner gezogen werden muss. Keine Ahnung was dadurch besser geworden ist.

     
  4. 14

    unser kapitalistisches System ist auf Belohnung ausgerichtet.
    Angestellte arbeiten für ihren Lohn Hunde machen’s für ein Leckerli oder eine Belohnung.
    Aber warum in Himmels Namen soll ich meine Einkäufe ohne Gegenleistung scannen und mir eine Diebstahlsanzeige einhandeln wollen, wenn auch nur eine Kleinigkeit schief geht?
    Letzten Samstag war ich beim Aldi. Konventionelle Kasse. Hatte ich von den krummen Karotten 2 Stück (Warenwert € 0,37) in einer Plastiktüte an meinem Rollator hängen und vergessen auf’s Band zu legen.
    Nichts von Tadel, einfach die Frage von der Kassierin „sind die drüben von der SB ? dann müssen wir dienoch eben wiegen !
    So geht‘ auch, und nicht gleich wie bei anderen Diebstahl vermuten und als Angestellte auf Fangprämie hoffen.

     
  5. 12

    @Benno, #11: Ihr Einwand ist berechtigt. Ich nehme meinen Ausdruck „Kundenclown“ daher zurück. Mein Fehler. Ich hätte mit der verbalen Goldwaage mancher Leser rechnen müssen. Deshalb subsumiere ich das Verhalteneiniger SB-Kunden nunmehr unter den Kritikpunkt „Kreativer Umgang mit neuer Technik“.

    Am Fall der SB-Kassen lässt sich aber exemplarisch die ‚Schuldfrage‘ klären. Es eine komplette Kategorie von Firmen: Unternehmensberatungen. Jedesmal wird nur eine einzige Zielgröße optimiert, ohne Beachtung der Randbedingungen: Der Börsenwert des Unternehmens (‚Shareholder Value‘), welcher sich aus dem Quartalsgewinn ergibt. Aus der Sicht eines Investors: „Boah, DIE sind aber innovativ! DA kaufe ich ein paar mehr Aktien und kassiere ein wenig mehr Dividende“. Ein rein ökonomischer Mechanismus, ganz ohne Philosophie und Psychologie.

    Ich persönlich habe während meiner Berufzeit das Wirken zweier Unternehmensberatungsfirmen kennengelernt und unterstützen müssen: A.T. Kearney und EY (Ernst & Young). Berichte ehemaliger Kollegen über KPMG und die deutsche Unternehmensberatung Roland Berger gehen in die gleiche Richtung. Die Vorgehensweise: Es werden Geschäftsprozesse ‚optimiert‘ mit dem Ziel, Personal einzusparen und so die Kosten zu senken.

    Auch wenn die Geschäftsführung der Business Unit die Sinnlosigkeit solcher Maßnahmen schon weit im Vorfeld erkennt – es nutzt nix. ‚Die Aktionäre‘ trauen dem eigenen Aufsichtsrat keine fachliche Kompetenz zu (meist zu Recht) und verordnen als eigentliche Kontrollinstanz die Beauftragung von A.T. Kearney und Konsorten. Verkürzt geschildert, aber hoffentlich verständlich erklärt.

    Bei meinen Arbeitgebern: Geschäftsprozesse wurden verschlankt, interne Firmensoftware wurde umgeschrieben, wir haben 1000 neue Standardclients ausgerollt, neue Hardware gekauft, viel Personal entlassen, und den Kundensupport outgesourced. Hat Geld gekostet und nix gebracht – aber egal, Augen zu und durch.

    Meine Hochachtung gilt den Aktionären von NETTO, die das erkannt haben und ungewöhnlich früh die Notbremse zogen. Der neue Quatsch wird abgebaut. Ich bin gespannt, ob stattdessen wieder neues Kassenpersonal eingestellt wird.

     
  6. 11

    @ 4 Stefan Schuster:
    „… Kundenclowns die bewußt riesige Warteschlangen erzeugen („Hier steht ein falscher Preis“), …“
    Seid wann sind Kunden, die auf falsch ausgezeichnete Ware hinweisen, Kundenclowns? Es gibt Menschen, die müssen jeden Cent drei mal umdrehen, damit Sie finanziell über die Runden kommen.
    Zum Glück gibt ja mittlerweile in Kleve Picnic, da stiehlt kein Kundenclown seine wertvolle Zeit 😉

    Benno

     
  7. 9

    Zur Wahrheit würde dazugehören zu beschreiben, wie viele Rundumkameras bei Albert Hein in den Niederlanden pro Quadratmeter an den Decken installiert sind. Dazu gehört auch, öffentlich zu machen, wo und wie lange die generierten Beobachtungsdaten gespeichert werden. Es gibt Menschen, die das interessiert und daraus Konsequenzen ziehen.

     
  8. 8

    Da finde ich Nietzsche cooler…aus „Jenseits von Gut und Böse“

    „Wer mit Ungeheuern (Schlangen) kämpft, mag zusehn, dass er nicht dabei zum Ungeheuer wird. Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.“

    Ich kann Warteschlangen generell nicht leiden (wer schon)…immer zur falschen Zeit, an der falschen Kasse, die falschen vor einem („Umtausch/Storno).

    Einkaufen generell ätzend ( haben sie die App, Gutschein, Code, nur von Donnerstag bis Freitag, Superwochenende usw. – was für ein Firlefanz).

    Was würden die Philosophen wohl schreiben, würden Sie in der heutigen Zeit leben…diese Frage stelle ich mir eigentlich eher.

     
  9. 7

    Kants Imperativ lässt in der Maximalforderung keine Dehnungsfugen zu. Da die menschliche Natur anders funktioniert, macht Kant mir ein bisschen Angst. Kant ist der Meinung, dass moralisches Handeln ohne eine Gefühlsgrundlage stattfindet und einzig die rationale Vernunft entscheidend ist bzw. sein sollte. Menschen, die nur nach Maßstäben der Vernunft (richtig) handeln, machen mir auch Angst. Aus meiner Sicht ist die Menschheit verloren, wenn moralisches Handeln seinen Ursprung nur in der linken Gehirnhälfte hat. Die angemessene Zusammenarbeit zwischen rechter und linker Gehirnhälfte ist essenziell.

    Ich weiß jedenfalls, warum Psychologie mich mehr interessiert als Philosophie. In der Psychologie geht es um das Zusammenspiel von Emotionen und Kognitionen.

     
  10. 6

    .By the way ! US SUPERMART + „ALL DAY“ KULTUR zu übernehmen heißt hier oft 🙄 schon sehr schmerzfrei zu sein. 😁 ABER ! An den Kassen der Supermärkte wird ein Top Stil gepflegt…
    ☝🏼 ABSTAND / RESPEKT + nicht seinem Vordermann ( bildlich ) i.d. A. kriechen 🥶 , das ist für mich z.B. TOP US KULTUR . 😂 Da ist Deutschland eher ⤵ 🚽 😎

     
  11. 4

    Mal ganz ideologiefrei:
    Während meines Studiums vor vielen Jahrzehnten habe ich in einer mündlichen Prüfung zum Fach ‚Operations Research‘ auch Fragen aus der Warteschlangentheorie beantworten müssen.
    https://de.wikipedia.org/wiki/Warteschlangentheorie

    Seitdem weiß ich, warum ich in allen Supermärkten immer mehrere Minuten vor der Kasse (mit Personal besetzt) warten muss.

    Deshalb hatte ich die ersten SB-Kassen begrüßt. Aber ach – es dauerte nur wenige Wochen, und umtriebige Unternehmensberatungsfirmen hatten die Warteschlangentheorie auch auf die SB-Kassen angewandt.

    Wichtiger noch: Die inhärenten Probleme dieses Abkassiersystems. Ohne Lesebrille für Senioren nicht zu nutzen, häufig abstürzende IT, Kundenclowns die bewußt riesige Warteschlangen erzeugen („Hier steht ein falscher Preis“), finanzielle Verluste wegen Kunden, die einen kreativen Umgang mit neuer Technik gewohnt sind, uvm.

     
  12. 2

    Jetzt weiß man, womit rd sich in den letzten Tagen beschäftigt hat … es wirkte ja so, als sei (zumindest gedanklich) abwesend.

    Und uns beschert es eine kleine Kant-Stunde. Ein weites Feld… Ich muss das nachher nochmal genau lesen.

     
  13. 1

    Die Überschrift liebe ich – der Inhalt ist überwiegend gequirlte Sch…. Aber andererseits liebe ich freilich auch die schöpferische Freiheit von kleveblog.