Ein bemerkenswerter Prozess aus der Mitte der Gesellschaft

Der 56 Jahre alte Handwerker auf der Anklagebank

Für die NRZ habe ich im vergangenen Monat einen Prozess am Landgericht Kleve verfolgt, in dem einem 56 Jahre alten Malergesellen aus Goch vorgeworfen wurde, zwei Auszubildende sexuell missbraucht und vergewaltigt zu haben. Die Verhandlung lieferte bemerkenswerte Einblicke, deshalb auch hier die Berichte:

Prozessauftakt

„Du musst noch deinen Einstand leisten“, habe der Geselle gesagt. Als der Lehrling mit ein paar Brötchen ankam, schleuderte der ältere Kollege sie zu Boden – und äußerte einen eindeutigen sexuellen Wunsch. „Ich habe das als Spaß gesehen“, so der ehemalige Auszubildende, der heute 34 Jahre alt ist. 

Doch es war kein Spaß, davon ist zumindest die Staatsanwaltschaft Kleve überzeugt, sodass seit Montag die 2. große Strafkammer des Landgerichts Kleve gegen einen 56 Jahre alten Malergesellen wegen einer Vielzahl von Fällen sexuellen Missbrauchs und auch Körperverletzung verhandelt.

Der Angeklagte nahm die insgesamt zwanzig Tatvorwürfe äußerlich gefasst zur Kenntnis. Es handelt sich um einen verheirateten Familienvater, der 25 Jahre in dem Betrieb gearbeitet hat, in dem sich die Fälle ereignet haben sollen. Sein Anwalt versuchte zu Beginn der Verhandlung, die Öffentlichkeit ausschließen zu lassen, doch dem Ansinnen gab die Kammer nicht statt. Und so äußerte sich der Maler und Lackierer vor Publikum zu den Vorwürfen. 

Man habe über „sexuelle Sachen“ geredet, „wie das auf Baustellen so ist“. So begann er und schilderte im Folgenden im Grunde zwei Liebesbeziehungen. Nach anfänglichem Zögern sei es zu sexuellen Handlungen gekommen, „irgendwann so viel, dass die Liebe immer größer wurde“. 

Alles sei einvernehmlich erfolgt, und einer der beiden Männer, die später die Vorwürfe erhoben, habe sogar zeitweise bei ihm gewohnt. Der andere habe sich anlässlich einer Geburtstagsfeier in einem Gästebuch mit den Worten „Ich liebe dich“ verewigt.

Soweit die Darstellung des Mannes, der zugab, dass es auf diversen Baustellen und bei ihm zu Hause immer wieder zu sexuellen Handlungen gekommen sei, bei denen er der aktive Part gewesen sei.

Wie einvernehmlich war das aber wirklich? Bekannte eines der beiden Auszubildenden nahmen bei ihrem Freund mit der Zeit Veränderungen wahr. Er sei immer verschlossener geworden, sei an manchen Wochenenden überhaupt nicht mehr erreichbar gewesen. Irgendwann stellten sie ihren Freund auf einer Autofahrt zur Rede, und er brach in Tränen aus und gestand, auf der Arbeit sexuell missbraucht zu werden.

Über einen Kripobeamten in der privaten Bekanntschaft gelangte die Angelegenheit zur zuständigen Stelle in Kalkar, die die Ermittlungen aufnahm und so weit führte, dass nun der Prozess möglich wurde.

In der Verhandlung sagten neben den Freunden auch die beiden Männer aus, die in dem Malerbetrieb tätig waren und die Vorwürfe erhoben. Ihre Schilderungen wiederum zeichneten das Bild eines hochmanipulativen Menschen, der ihre Lage als junge, unsichere und unerfahrene Auszubildende in dem Betrieb gezielt auszunutzen wusste.

Der erste – der mit dem Einstand – war von 2009 bis 2012 Auszubildender in dem Betrieb. Er sah sich andauernden sexuellen Avancen ausgesetzt und hörte nach einem erzwungenen Kuss: „Geht doch, ist doch gar nicht so schlimm.“ Später willigte er in Handlungen ein, „damit er mich in Ruhe lässt“. Das sei jedoch nicht geschehen.

Der Zeuge sagte, er habe sich unter Druck gesetzt gefühlt. Der Altgeselle habe ihn aufgrund seiner Position „in der Hand“ gehabt. Auch gab es ein explizites Video, mit dessen Verbreitung der Mann drohte. Oder er habe mit dem Auto extrem beschleunigt und dann gedroht: „Ich fahre uns gegen einen Baum.“

Der zweite Zeuge, der seine Lehre in dem Betrieb in den Jahren 2015 bis 2018 machte, brach während seiner Aussage in Tränen aus. Über den gesamten Zeitraum seiner Ausbildung sei es mehrere Male in der Woche zu sexuellen Handlungen gekommen. „Er hat alles getan, mir das Leben schwer zu machen und dass ich mich ihm füge“, sagte der Mann, der heute 24 Jahre alt ist.

Dazu gehörten seiner Aussage zufolge auch 50 bis 60 Anrufe pro Tag, Faustschläge und Drohungen. Auch bei ihm habe es mit sexuellen Anspielungen begonnen, und nach zwei überraschenden Hieben ins Gesicht und in die Magengrube habe er „es“ über sich ergehen lassen. Er sagte: „Er hat mir die Arbeit zur Hölle gemacht, und er hat mich privat gestalkt.“ Auch er wusste, dass Videoaufnahmen existieren, die der Geselle auf Facebook hochzuladen drohte.

Beide jungen Männer gaben an, bis heute unter den Folgen der Taten zu leiden. Der 24-jährige Mann schilderte seine Qualen eindringlich: „Ich habe mich geschämt, und ich hatte Angst, dass das alles nicht mehr aufhört.“ Er habe sogar an Selbstmord gedacht.

Die Verhandlung wird am 22. Januar mit der Vernehmung weiterer Zeugen fortgesetzt.

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Zweiter Verhandlungstag

Am zweiten Verhandlungstag war nur Kollege Heiner Frost anwesend. Seine Eindrücke vom gesamten Prozess kann man hier nachlesen: Vergangenheit als Monster oder Modell Freundschaft +. Ab der Zwischenzeile „Elf Zeugen, elf Perspektiven“ beginnt der Bericht über den zweiten Verhandlungstag.

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Das Urteil

Das Urteil hatte er noch mit versteinerter Miene und regungslos zur Kenntnis genommen, doch als der 56 Jahre alte Altgeselle aus Goch den Gerichtssaal verließ und von seiner Frau und seinen beiden erwachsenen Söhnen nach draußen begleitet wurde, brach der Mann in Tränen aus.

„Ich liebe euch alle drei“, so hatte er seine Familienmitglieder in seinem Schlusswort angesprochen und sich für deren Unterstützung bedankt. Doch genau in diesem Schlusswort tauchte das Wort Liebe auch noch einmal in einem anderen Zusammenhang auf. „Ich habe euch geliebt“, so sprach er die beiden jungen Männer an, die mit ihm als Maler-Auszubildende in einem Gocher Unternehmen zusammengearbeitet hatten – und die am Montag im Gerichtssaal an der Seite von Rechtsanwalt Dr. Karl Haas als Nebenkläger aufgetreten waren.

„Ich möchte mich für die aufdringliche Art entschuldigen, aber ich kann mich nicht für Dinge entschuldigen, die nicht stattgefunden haben“, das war die Sicht des Angeklagten auf die Ereignisse aus den Jahren 2009 bis 2018. Das Schlüsselwort für diese Perspektive war das Wort „einvernehmlich“.

Einvernehmlich sei es während der Ausbildung der beiden jungen Männer zu verschiedenen sexuellen Handlungen gekommen, in den meisten Fällen zu Oralverkehr, bei denen den zwei und drei Jahrzehnte jüngeren Männern die passive Rolle zukam. Für die Einvernehmlichkeit, so führte es sein Anwalt Johannes Bellen aus, sprächen beispielsweise eine Liebesbotschaft in einem Gästebuch, eindeutige Kurzmitteilungen und sogar eine Tätowierung mit den Initialen des Mannes, die sich einer der beiden Nebenkläger habe stechen lassen.

Das aber sah die 2. große Strafkammer unter Vorsitz von Richter Gerhard van Gemmeren ganz anders. 

Insgesamt führte das Gericht für sein Urteil 14 sexuelle Kontakte an, von denen zwei als Vergewaltigung gewertet wurden, weil sie mit einer Penetration verbunden waren, und einer als versuchte besonders schwere Vergewaltigung. Bei diesem Vorfall hatte der Altgeselle seinen Lehrling mit einem Cuttermesser bedroht, war dann aber von diesem überwältigt worden. 

In elf Fällen erkannte das Gericht auf sexuellen Missbrauch von Schutzbefohlenen – der zweite Lehrling war zum Zeitpunkt der Taten noch keine 18 Jahre alt. In einem Fall wurde ein Video gedreht, womit das Gericht auch noch den Tatbestand der Jugendpornographie erfüllt sah. 

In zwei Fällen gab es zudem Angriffe auf den jüngeren der beiden Auszubildenden, die als Körperverletzung gewertet wurden. Und schließlich fanden sich auf dem Rechner des Gochers auch noch Dutzende jugendpornographische Bilder. Für all diese Delikte bildete die Strafkammer eine Gesamtfreiheitsstrafe – und die betrug sechs Jahre und sechs Monate.

„Eine empfindliche Freiheitsstrafe war erforderlich“, so der Vorsitzende Richter in seiner mündlichen Urteilsbegründung. Der Angeklagte habe teilweise eine „erschreckende kriminelle Energie“ entfaltet, die entsprechend geahndet worden sei. 

21 Zeugen waren während des Verfahrens gehört worden, dazu wurde eine Vielzahl von Urkunden verlesen. Insbesondere über das zumindest scheinbar widersprüchliche Verhalten der Angeklagten Opfer wollte sich das Gericht Klarheit verschaffen. Die Kammer kam zu der Erkenntnis, dass ein solches Verhalten typisch sei für Jugendliche und junge Erwachsene, die in ihrer Persönlichkeit noch nicht gefestigt seien. Oftmals gebe es bei solchen Taten ein Mischverhältnis aus schlimmen und schönen Dingen. Daraus resultiere eine Ambivalenz, die oftmals dazu führe, dass sich Betroffene erst nach Jahren offenbaren.

Diese Wesensmerkmale erkannte die Kammer auch in diesem Fall. Der Altgeselle setzte sich für seine Auszubildenden ein (sofern sie ihm gefügig waren), und er ließ sie beispielsweise auch sein Auto benutzen. Doch auf der anderen Seite gab es, so die Kammer, über Jahre hinweg einen enormen psychischen belastenden Druck, den der Angeklagte aufgebaut habe – etwa, indem Angst geschürt wurde, die Ausbildungsstelle zu verlieren, indem die Azubis und ihr Umfeld gestalkt wurden, indem gedroht wurde, alles zu verraten oder indem bei einer gemeinsamen Autofahrt rasant beschleunigt wurde und dann der Gedanke ausgesprochen wurde, das Auto gegen einen Baum zu lenken.

Van Gemmeren: „Da muss man sich eine Welt zusammenbasteln, um ein ruhiges Gewissen zu haben.“ Mit dem Strafmaß von sechseinhalb Jahren ging die Kammer noch deutlich über das hinaus, was die Staatsanwaltschaft gefordert hatte. Die Anklägerin hatte in ihrem Plädoyer eine Freiheitsstrafe von fünf Jahren gefordert.

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2 Kommentare

  1. 2

    Zuerst denke ich immer an und über die Menschen, denen seelische und körperliche Grausamkeit angetan wurde!
    Wer anderen Menschen, wissentlich, vorsätzlich und bewusst, seelisches und körperliches Unheil zugefügt hat, verdient nicht einmal eine geringste Chance! So etwas kann man im Leben nie wieder gut machen ………
    Hoffentlich haben die Opfer, jemals wieder die Chancen, in ein Leben einzutauchen, ohne immer diese Erinnerungen, Lebens- und Situationsbilder, mit sich zu tragen!

     
  2. 1

    Wäre gut, wenn man bei Missbrauchsfällen öfter den Rahmen des Strafmaßes ausreizen würde.

    Aber hier sind auch 6,5 Jahre zu wenig. Die Voraussetzungen für Sicherungsverwahrung nach § 66 StGB waren wohl nicht gegeben.

    Ohne Einsichts- und Steuerungsfähigkeit ist die Möglichkeit eines Rückfalls bei Sexualstraftätern signifikant erhöht.

    Ich bin grundsätzlich für eine zweite Chance, aber es gibt genügend Erkenntnisse, die die Schlussfolgerung zulassen, dass man sie nicht jedem gewähren sollte.