In diesen Tagen, in denen einem das Gefühl beschleicht, dass am Ende nichts mehr so sein wird wie es vorher war, wächst natürlich auch die Neigung, dieses Angebot mit Nachrichten zu bereichern, die fernab sind von diesem Krieg, und so passte es gut, dass ein freundlicher Leser meine Aufmerksamkeit auf vier Todesanzeige lenkte, die in der FAZ erschienen und in Kleve offenbar weitestgehend unbemerkt geblieben sind. Das Ableben von Professor Dr. Wolfgang Hagen wurde in diesen Mitteilungen vermeldet, Medienwissenschaftler, ehemaliger Leiter der Hauptabteilung Kultur beim Deutschlandradio Kultur, und die Zahl der Weggefährten, die sein Verscheiden in einer der Anzeigen betrauerten, dürfte eine DIN-A4-Seite füllen. Der Leser wies mich darauf hin, dass der Mann Klever Wurzeln habe, er sei der Sohn eines Internisten aus der Stadt gewesen.
Hagen? Wolfgang Hagen?
Irgendwas war da doch, erinnerte ich mich, und durchpflügte in einer vagen Ahnung einen Themenordner – Leitz, old school – mit Ideen und Anregungen für die Zeitschrift Der KLEVER. Meine Ahnung erwies sich als richtig, in diesem Konvolut von Zeitungsausrissen, Briefen und Notizen fanden sich vier ausgedruckte Seiten mit der Überschrift „Abitur 1968“, und darüber handschriftlich vermerkt: „Prof. Dr. phil. Wolfgang Hagen“.
Es handelte sich um die Abiturrede des Mannes, und deren Lektüre wiederum führt einen, obwohl der Text nunmehr knapp 54 Jahre alt ist, direkt zu den brennenden Fragen unserer Zeit. Deshalb sei hier, als Würdigung des Lebenswerks von Wolfgang Hagen, diese Abiturrede im Wortlaut wiedergegeben. (Wer mehr zum Leben und Wirken des Mannes wissen möchte, dem seien die hier verlinkten Nachrufe ans Herz gelegt: Medienwissenschaftler Wolfgang Hagen gestorben (FAZ); Leidenschaftlicher Radiomacher und mutiger Erneuerer (DLF); Erinnerungen an Wolfgang Hagen (DR Kultur); Wolfgang Hagen, „Erfinder“ von Radio Bremen Vier gestorben (RB4, mit wunderbarem Videoclip) .
ABITUR 1968
Abitur-Rede gehalten von Wolfgang Hagen (Jahrgang 1950) anlässlich der Abiturienten-Abschiedsfeier des Staatlichen Gymnasiums in Kleve am 31. Mai 1968.
Sehr geehrter Herr Direktor, sehr geehrte Damen und Herren des Lehrerkollegiums, liebe Eltern und Gäste, Conabiturienten und Mitschüler,
meine Mitabiturienten haben mich gebeten, von dieser Stelle aus in ihrem Namen zu sprechen. Gleichzeitig baten sie mich, so kurz zu sprechen, wie es das Thema und der Rahmen zulassen, was er wohl heißt „so kurz wie möglich“.
Gerne komme ich dieser Aufforderung nach und bitte Sie nun, meine Damen und Herren, mir genau acht Minuten Ihrer Aufmerksamkeit zu schenken.
Wir stehen an der Front eines interessanten und, wie ich glaube, eminent wichtigen geschichtlichen Prozesses, eines Aufbruches von neuen Kräften, die alte Autoritäten und hierarchische Bindungen, die bisher als unantastbar und selbstverständlich galten, angreifen und in Frage stellen. Jeder, der einmal über die Grenzen in unser Nachbarland Frankreich sieht, muss das bestätigen, wenn auch nur beklommenen Herzens und mit unguten Gefühlen, ob der Formen, die diese Auseinandersetzung teilweise angenommen hat. Keiner weiß, wo diese Entwicklung uns hinführt, oder wohin wir sie führen werden, denn gerade wir Jungen fühlen uns von diesen neuen Gedanken angesprochen und erfasst.
Diese gespenstische Bewegung, die eigentlich nur aufgrund ihrer Vielschichtigkeit gespenstisch genannt werden muss, hat alle Bereiche gesellschaftlichen Lebens ergriffen – das fängt an bei der internationalen Politik und geht hin bis zur gesellschaftlichen Keimzelle, bis in die Familie, wo sie ganz wie in der großen Politik überalterte Strukturen und falsch verstandenes autoritäres Denken aufdeckt und in ihrem Sinne zu verändern sucht.
„Ein Gespenst geht um in Europa“. Dieser Satz, den Karl Marx 1848 an den Anfang seines kommunistischen Manifestes setzte, dieser Satz fällt mir ein, wenn ich unsere jetzige Situation zu beschreiben versuche. Marx meinte damals die kommunistische Idee, die die Proletarier aller Länder aus ihren Ketten befreien und sie in der klassenlosen, sozialistischen Gesellschaft vereinigen sollte. Von dieser Idee müssen wir leider sagen, dass sie in ihrer Verwirklichung gescheitert ist; dass in den Ländern des Ostblocks nichts mehr von ihr geblieben ist als der Name.
Und was ist mit dem Gespenst, das heute bei uns umgeht?
Es ist auch eine Idee, müssen wir sagen, eine Idee, die im Ansatz sehr vieles mit der kommunistischen von 1848 gemein hat. Das verfechten einer Idee setzt Idealismus voraus und es ist schon etwas sehr idealistisches, wenn man sich mit seiner ganzen Person dafür einsetzt, das Unrecht dieser Welt zu beseitigen und wenn man sein Leben dahin ausrichtet, das soziale Gefälle zu der Dritten Welt abzubauen. Man muss schon ein Idealist sein, wenn man die Beschimpfungen, die unsere Gesellschaft einen solchen Mann parat hält, ertragen will.
Denn wo wird eigentlich das Wort „Berufsrevoluzzer“ einmal positiv gebraucht, dass doch wahrhaftig kein Schimpfwort, sondern diesem Zusammenhang wenigstens ein Ehrentitel ist? Aber es ist tatsächlich nur eine Idee der Jugend? Ist es nur das für die Jugend schon immer typisch gewesene Aufmüpfigsein? Ist es nur das seit 2000 Jahren bekannte Phänomen, dass junge Leute immer nach idealen streben?
Nein, ich glaube, diese Bewegung geht tiefer. Sie greift mit unerhört systematischer Konsequenz in unser Denken ein, und man kann es nicht als zufällig ansehen, dass gerade in einer Zeit, in der die Intellektuellen politisch aktiv werden und auf die Straße ziehen, das Gedankengut des II. Vatikanums so deutlich spürbar wird, ein Mao-tse-tung sich immer weiter von Moskau entfernt und neben dem Existenzialismus, doch vielfach weit ab von ihm, Bloch, Marcuse, Habermas und Adorno wichtig werden und mehr und mehr ins Gespräch kommen.
Diese Bewegung, die ich – wenn schon nicht als revolutiv – als überaus progressiv bezeichnen will, diese Bewegung hat in unserem Land und fast allen Ländern Europas und der westlichen Welt schon viel bewirkt natürlich ist es noch lange nicht Zeit, ein Fazit zu ziehen, doch kann man durchaus sagen, dass ihre geistigen Welten auch unsere Schule erreicht haben und ihren altehrwürdigen Sockel ein bisschen umspülen.
Was die Schülermitbestimmung angeht, haben wir hier schon Erfolge zu verzeichnen. Wir sind als einzige Schule des linken Niederrheines in der glücklichen Lage, Vertreter der Schülerschaft zu Organisationskonferenzen zu schicken und müssen unserem Direktor dafür dankbar sein, woran sich gleich die Bitte anschließt, dass einmal Begonnene weiter auszubauen.
An dieser Schule also, in der sich durchaus Ansätze des neuen Denkens finden lassen, und in der die Samen echter demokratischer Praxis gesät sind, an dieser Schule haben wir Abitur gemacht. Wir haben 8, 9 oder 10 Jahre auf dieses Ziel hingearbeitet, versteht etwas von Shakespeare, Sartre, Plato unter Differenzialrechnung und wissen in großen Zügen, was wissenschaftliches Denken und Arbeiten bedeutet; in großen Zügen deshalb, weil das wissenschaftlich-analytische Denken niemals selbst Lerninhalte gewesen ist, sondern immer nur sekundär unterschwellig an anderen Lerninhalten vermittelt wurde. Wir sind daher leidlich imstande, Texte von Goethe, Frisch, Schiller und Benn in etwa verstehend zu interpretieren und sind so nach dem erfolgreichen Abiturtest qualifiziert und gerüstet für ein Universitäts-Studium.
Und es steht sogar zu erwarten, dass wir unser Studium erfolgreich absolvieren, und – wenn wir uns weiterhin in kritisch-rationaler Wissenschaftlichkeit üben – eines Tages voll in den sogenannten akademischen Stand eintreten.
Das steht zu erwarten, denn dazu sind wir fit!
Aber sind wir eigentlich auch fit genug für die Lösung der gesellschaftlichen Probleme, die immer näher auf uns zukommen? Sind wir fit genug, uns mit den Vertretern jener gespenstischen Bewegung auseinanderzusetzen, einer großen Anzahl politisch engagierter Leute, die nicht mehr weiter bereit sind, im geistloser Apathie und gesellschaftlicher Ohnmacht ihren Wohlstandskleinkram zu betreiben und es gründlich satt sind, von allen Seiten formal-demokratisches Geplänkel zu hören, während sie in allen Bereichen Ungerechtigkeit und autoritäres Denken erleben? Was wissen wir eigentlich über die Dritte Welt? Was wissen wir über die möglichen Gefahren im heutigen Spätkapitalismus?
Lassen Sie mich eine viel grundsätzlichere Frage stellen: Sind wir in der Lage, das kritisch rationale Denken, dass wir in der Mathematik gelernt haben, dass wir an Sartre und Benn praktiziert haben; sind wir in der Lage dieses Denken auch im gesellschaftlichen Bereich anzuwenden und auf politische Probleme zu übertragen?
Die Forderung, die hinter all diesen Fragen steht, [ist] die Forderung nach einer wissenschaftlich-rational durchdrungenen Politik, die nur auf dieser Grundlage eine wahrhaft demokratische Kontrolle erfahren kann. Es ist die Forderung nach einer Politisierung der Wissenschaften, was eigentlich doch nur die Forderung nach politisch-aktiver Stellungnahme eines jeden ist, der im Betrieb, in der Behörde, in der Schule und Universität und als Freiberufler eine gesellschaftliche Polstelle einnimmt oder in Zukunft einnehmen wird.
Es besteht allerdings die große Gefahr, dass diese Forderung nicht gehört werden wollen oder gar nicht verstanden werden können, weil wir vielleicht schon viel zu sehr in die Wohlstands- und Leistungsgesellschaft integriert sind und uns in ihr ein festes Nest bauen wollen, und so an grundsätzlichen gesellschaftlichen Fragen völlig uninteressiert sind. Allerdings wissen wir aus der Geschichte, wie enorm gefährlich ein solches Desinteresse werden kann und wir müssen daher heute mit Macht daran gehen, das vorhandene Desinteresse abzubauen.
Wenn alle diese Forderungen von dieser Stelle hier ausgesprochen werden, dann soll sich das gegen zweierlei wenden. Einmal gegen den idyllischen Charakter solcher Stunden, wie diese hier, in der vielmehr ruhiger klarer Ernst vorherrschen sollte, und zum anderen gegen manches emotional-überladene Gefasel und Getue an unserer Schule, dass zwar auf beiden Seiten zu finden ist – in erschreckenderem Maße aber leider auf Schülerseite.
Lassen Sie mich schließen mit einem kleinen Satz von Herakles, der vor zwei ein halb Jahrtausenden niedergeschrieben wurde und in der Übersetzung ungefähr so lautet: „Das Widerstrebende vereinigt sich und aus den entgegengesetzten Tönen entsteht die schönste Harmonie, denn alles Geschehen erfolgt auf dem Wege des Streites.“
Wolfgang Hagen hatte seinerzeit schon die richtigen Gedanken. Umso mehr ist es mir bis heute schleierhaft, wie sich aus einer doch eher gelungenen gesellschaftlich, intellektuellen Befreiung in den 60-70ern über die 80er und 90er so etwas entwickeln konnte, was uns heute beherrscht: Ein die Gesellschaft und Politik beherrschendes autistisches, vornehmlich ideologisch begründetes Wirtschaftssystem, menschengemacht, das nicht funktioniert, gar nicht mit dem Menschen kompatibel ist, dem wir uns als Mensch aber anpassen müssen, bzw. sollen, damit die Theorie wenigstens stimmt. Vollkommen irre!
Die s.g. Boomer (meine Definition, die Generation geboren 1960+) haben hier vollends versagt. Eingelullt von Modern Talking, Kabelfernsehen, RTL-Tutti-Frutti, „Cin Cin“, Billigflügen nach Mallorca, Billigbier, Oktoberfesten, einer Traumschiff-Helmut Kohl-Merkel-Bräsigkeit wachen nun wieder einige kurz auf.
Diejenigen, die aufgrund totaler Fremdbestimmung oder intellektueller Überforderung den Schock erst gar nicht vertragen, driften, einem Drogensüchtigen gleich, dann z.B. zur AfD ab. Den Rest in dem Verein bezeichne ich weiterhin als menschenverachtende, empathielose Arschgeigen, die es immer geben wird und wir dort wenigstens gut im Blick haben.
Überwiegend entwickeln sich Katastrophen immer zu etwas Positiven. Das Leiden und die Anstrengungen meiner Großeltern waren m.E. nicht sinnlos. Sie haben mir etwas äußerst Wertvolles hinterlassen, eine ungewöhnlich lange Zeit des Friedens, Zurückdrängen des Feudalismus, Neudefinition von Freiheit, das im Zentrum stehende Individuum (Gruß an dieser Stelle auch an die Katholische Kirche!)– Es wird alles besser.
Rezepte fallen mir aktuell auch nicht ein…
Ach so, heute ist der 4. März!
@AfD, AfD-Kleve, erinnern wir uns bei der Gelegenheit an den 4. März 1936:
Auf der vom deutschen Reichsinnenminister Wilhelm Frick veröffentlichten neuen Ausbürgerungsliste befinden sich u.a. die Namen des Schriftstellers Arnold Zweig und des sozialdemokratischen Politikers Kurt Schumacher.
P.s.: @Klaus™, 5, das TM ist wohl der Hinweis darauf, dass Du nicht der Unternehmer-Klaus mit der ulkig-bizarren Facebook-Timeline bist, richtig? Der würde auch nicht in dem Timbre schreiben. Tut mir leid, der Name „Klaus“ ist in Kleve einfach verbrannt.
Mein herzliches Beileid an die Familie.
@3.Torsten
Volle Unterstützung was das „Daumen-runter“-Thema angeht.
@rd
Danke für den interessanten Artikel.
@Torsten, #3:
Ihr Zitat: „Brauchte dafür nur immer die Seite zu aktualisieren.“
Das ist abhängig von benutzten Browser. Aber wenn hier auch Beiträge, deren Inhalt lediglich eine neutrale Information ohne Wertung transportieren, und sogar auch Meldungen über den Tod verdienter Mitbürger einen ‚Daumen runter‘ auslösen, dann gibt es nur eine mögliche Schlussfolgerung:
Der ‚Daumen runter‘ gilt dem Blog insgesamt, nicht dem jeweiligen Wortbeitrag.
Herzliches Beileid an die Hinterbliebenen, ruhen Sie in Frieden, Herr Hagen.
Mir geht dieses Bewertungssystem gerade bei solchen Meldungen schon lange gegen den Strich, weil es einfach nicht funktioniert.
Wenn ich bei den beiden unteren Beiträgen auf Daumen hoch klicke, passiert nichts.
Wenn ich auf Daumen runter klicke, kommt bei Daumen runter einer dazu und bei Daumen hoch wird einer abgezogen!!! Hä???
Ich habe diesbezüglich vor ein paar Wochen schon mal mit Hr. Daute telefoniert, ich wollte dies nicht im Blog diskutieren. Er wollte sich kümmern, aber leider funktioniert es immer noch nicht.
Mir ist es eigentlich zuwider, hier an dieser Stelle schreiben zu müssen, aber hier passt es und es muß darauf aufmerksam gemacht werden, die negativen Bewertungen sind ja bei anderen Artikeln zum Tod lokal bekannter Menschen auch schon aufgefallen.
Anderer Fehler: Ich konnte auch bei der Meldung zur Schließung von Lampen Udo einen Beitrag locker mal um >100 hochpuschen. Brauchte dafür nur immer die Seite zu aktualisieren.
Mein Beitrag kann, außer der erten Zeile, gerne gelöscht werden, wenn dieses Bewertungssystem endlich funktioniert – oder abgeschaltet wurde – zumindest die „Daumen runter“.
Viele Grüße
Torsten
Liebe Freunde der Bewertungsfunktion,
wäre es wohl möglich, Daumen-runter-Bewertungen bei diesem und folgenden Nachrufen zu unterlassen?
Ruhe in Frieden, lieber Wolfgang. Wir kannten einander, auch wenn ich ein 69er-Abiturient war.