Lob der Stadtbücherei: Rollator-fit für ChatGPT und Tomaten-Tantra

Dieser Anblick ist künftig auch freitags möglich

Von allen Nutzern der Stadtbücherei bin ich bestimmt nicht derjenige, der die meisten Medien ausleiht und am häufigsten das recht schmucklose Gebäude in der Wasserstraße aufsucht. Doch mein Benutzerausweis mit der Nummer 314170 identifiziert mich als jemanden, der sich dem Service der Einrichtung schon anvertraute, als die Bücherei noch näher an „Der Name der Rose“ war als an Netflix, und ich meine mich zu erinnern, dass ich auf kleveblog schon einmal über die seligen Zeiten geschrieben habe, als überschrittene Leihfristen mit Kuchenspenden an das Personal ungeschehen gemacht werden konnten.

Damals befand sich die Stadtbücherei noch in einem Gebäude namens Marstall an der Schwanenburg, dort, wo heute das Grundbuchamt seinen Platz hat. Leiter war Winfried Hoenes, ein bärtiger Mann mit dicker Brille, der immer Tweedsakkos trug und nichts lieber tat als Gedichte in der japanischen Versform des Haiku zu verfassen. 

Es ist schön zu sehen, dass sein Erbe in Ehren gehalten wird, denn im aktuellen Katalog der Stadtbücherei finden sich noch exakt zehn Bücher aus seiner Feder („Des Wassers Spuren und andere Haiku“), und ein wohliger Schauer durchflutet das Gedächtnis, wenn beim Anblick der Liste sein äußerst effizienter schöpferischer Ansatz offenbar wird: Das Werkverzeichnis listet „Aphorismen für Pädagogen“, „Aphorismen für Mediziner“, „ Aphorismen für Juristen“, „Aphorismen für Journalisten und Kritiker“ sowie, offenbar für alles, was nicht in diese Bücher passte, „222 Aphorismen und andere Denkzettel“.

Doch die Zeiten haben sich gewandelt, die Stadtbücherei zog vor langer Zeit in die Unterstadt, und der Nachfolger der Nachfolgerin von Hoenes, Jens Neumann, hat in den nunmehr zwölf Jahren seines Wirkens die Einrichtung behutsam in die Neuzeit überführt, was nicht zuletzt daran zu erkennen ist, dass der Nutzer nun seine Bücher selbstständig ausleihen und sogar mittels eines in die Fassade eingelassenen Automaten Tag und Nacht zurückgeben kann, wobei natürlich außerhalb der Öffnungszeiten der Plausch mit dem Personal entfallen muss.

Selbstverständlich gibt es mittlerweile auch elektronische Bücher, wobei ich persönlich aus sprachästhetischen Gründen mit dem Wort „onleihe“ immer noch etwas hadere. CDs und DVDs gibt es auch, aber sie wirken schon fast wie Sondermüll und gemahnen daran, wie vergänglich Dinge sind, die oftmals mit großem Bohei und als „Gamechanger“ in den Markt geworfen werden. Nicht  einmal 20 Jahre überdauern sie.

Wie anders ist das mit der Erfindung von Herrn Gutenberg! Immer noch finden sich beim Schlendern durch die Regale Bücher, die die Anmutung haben, als hätte der Mainzer Erfinder persönlich sie gedruckt, und warum auch nicht, denn in diesen Zeiten ist ein Besuch der Stadtbücherei eine Art Mediation in Sachen Verlässlichkeit, eine Lobpreisung unerschütterlicher Stabilität, eine Huldigung der herrlichen Idee, dass sich Wissen sammeln und sortieren lässt, und dass dieser Schatz allen offensteht (im Falle der Stadtbücherei ein Jahresbeitrag von gerade einmal 16 Euro vorausgesetzt).

Wer sich je auf TikTok in einem ausgeklügelten Algorithmus zwischen Basketballdrills, Lebensberatung, Kochrezepten und Filmschnipseln verloren hat, weiß ein Regal zu schätzen, das sich mittels eines angebrachten Zettels als „Heimatkunde“ zu erkennen gibt und dann alphabetisch geordnet allerlei gedruckte Produkte zu diesem Thema vorhält.

Hier und da werden in Präsentationsregalen Neuerscheinungen mit ihrem Cover (und nicht nur mit dem Buchrücken) präsentiert, aber nicht marktschreierisch und auf den schnellen Effekt bedacht, sondern mit der Gelassenheit, die nur ein Mensch haben kann, der in seinem Leben schon viele Bücher hat kommen und gehen sehen und weiß, dass er mit seinem Etat ohnehin nicht alles nach Kleve holen kann, was der Buchmarkt hergibt.

Gleichwohl zeigt sich der sichere Wille zur Gestaltung, wenn beispielsweise im Jahr des 100. Todestages von Franz Kafka ein weithin unbekanntes und sicherlich nicht meisterhaftes Werk „Kafka im Büro“ präsentiert wird, oder wenn einem ein Werk mit dem Titel „Das Geheimnis hinter ChatGPT“ anempfohlen wird, welches wiederum so gut ist, dass selbst ein Nerd damit zu kämpfen hätte (der Autor ist Stephen Wolfram). Die daneben liegenden Bücher heißen „Rollator-fit“ und „Tomaten-Liebe“. Vollends überrascht ist der gelegentliche Besucher, wenn er in den Regalen auch noch die viel beachtete Biografie „Herrndorf“ von Tobias Rüther über den Schriftsteller dieses Namens entdeckt. Das beweist eine sichere Hand.

Welcher Algorithmus würde je Tomaten, Rollatoren und ChatGTP zusammenführen?

Gleichwohl dokumentiert die Auswahl der erhältlichen Titel auch, dass dem Anspruch der Universalbildung für jedermann auf eine kuriose Weise Rechnung getragen wird, indem zu nahezu jedem Fachgebiet ein Band aus der Reihe „… für Dummies“ erhältlich ist. Die schönsten Beispiele: „Datenschutzgrundverordnung für Dummies“, „Pflegefall in der Familie für Dummies “, „Songwriting für Dummies“.

Man kann alles lernen

In den Regalen selbst finden sich, im Laufe der Jahre regelrecht sedimentiert, die literarischen Moden und deren Aufnahme durch das Personal der Stadtbücherei. Im Bereich der Sachbücher heißt dies etwa, dass es die Rubrik „Vco Sexualität“ gibt. Sie enthält exakt sechs Bücher, von denen mit Sicherheit eines noch in der Ära Hoenes angeschafft wurde: „Ashley Thirleby: Tantra-Reigen der vollkommenen Lust“. Für diejenigen, die wissen möchten, was sich dahinter verbirgt, sei hier aus einer Amazon-Rezension zitiert: „Sehr detaillierte Anleitung für tantrische Gruppenvereinigungen. Alle beschriebenen Übungen werden im Buch mit unterschiedlichen Partnern abwechselnd ausgeführt.“

Sechs Sex-Bücher

Der Wurm muss dem Fisch schmecken und nicht dem Angler, heißt es in der Medienbranche, und es ist womöglich ein rein quantitativer Wink, dass im Vergleich zum Abschnitt „Vco“ der Abschnitt „Vel 7“ exakt viermal so groß ausgefallen ist. Das Thema lautet: „Muskel, Knochen, Rheuma“. Das mit dem Wurm gilt auch für die Abteilung Computer, wo sich neben durchaus aktuellen Titeln auch Handbücher für Office 2013 finden. 

Nicht vergessen werden sollte übrigens der großartige Einsatz des Stadtbücherei-Teams, wenn es darum geht, Bücher zu besorgen, die nicht im vorgehaltenen Bestand sind. Per Fernleihe besorgen Birgit Kalkes und ihre Kolleginnen und Kollegen nahezu alles, was je gedruckt worden ist. Wenn es einen zum Beispiel überkommt, das 1963 erschienene Buch „Kentaurenfährte“ eines seitdem in völliger Versenkung verschwundenen und mittlerweile verstorbenen Schriftstellers namens Adam Rainer Lynen zu lesen, die Stadtbücherei besorgt es einem – und wenn es vorher jahrzehntelang im Keller des Fritz-Hüser-Instituts für deutsche und ausländische Arbeiterliteratur in Dortmund herumgelegen hatte.

Ein Ausweis der Kontinuität sind auch die Öffnungszeiten – seit Jahr und Tag dieselben. Man kann sich eigentlich auf 14 Uhr bis 17 Uhr verlassen, nur dienstags wird etwas früher geöffnet, donnerstags wiederum etwas länger, und freitags ist seit jeher geschlossen. An Samstagen, dem wohl wichtigsten Tag für Familien und Berufstätige, kann die Stadtbücherei von 9 bis 13 Uhr betreten werden. 

Eine Sache allerdings ist im Laufe der Jahre verloren gegangen, die ich sehr vermisse: Früher gab es in allen Büchern eine Karteikarte, auf der die Namen der bisherigen Entleiher verzeichnet waren, was einem immer schöne Momente des: „Aha, das hat er also auch gelesen!“ bescherte. Das war wohl mit dem Datenschutz nicht mehr vereinbar. Da zudem nun auch die Ausleihe automatisiert erledigt werden kann, erfährt nicht einmal mehr das Personal, wer sich Bücher über den Tantra-Reigen der vollkommenen Lust ausleiht.

Deine Meinung zählt:

12 Kommentare

  1. 12

    Also ich finde die Stadtbücherei super und vermute, dass mit den vorhandenen Mitteln das Beste gemacht wird. Wen die veraltete Literatur stört, der oder die hat die Möglichkeit, Anschaffungsvorschläge zu machen. Zumindest meine wurden alle berücksichtigt und beim Eintreffen wurde ich sofort benachrichtigt. Toll ist der Automat draußen zur Rückgabe. Nennenswert weiterhin die Möglichkeit, für Schulklassen oder vergleichbare Gruppen Medienkisten zusammenstellen zu lassen, die dann, samt Kiste, über einen Institutsausweis (also nicht den Privatausweis) ausgeliehen werden können. Ein engagiertes, stets freundliches Team ist ebenfalls keine Selbstverständlichkeit, in der Stadtbücherei (und anderen Klever Institutionen) aber vorzufinden und lobenswert.

     
  2. 11

    Als ich vor einigen Jahren mit meinem kleinen Kind das erste Mal seit meiner Oberstufenzeit Anfang der 2000er-Jahre die Stadtbücherei besuchte, war ich ein wenig geschockt: Das sieht ja noch genauso aus wie vor 20 Jahren! Mittlerweile besuchen wir (mein 6jähriges Kind und ich) die Bücherei regelmäßig.
    Für Kinder ist der Büchereiausweis kostenlos. Es gibt, soweit ich das überblicken kann, alle am Markt verfügbaren Tonies im Bestand, dazu massig CDs mit Geschichten und Sachgeschichten, TipToi-Bücher, unzählige Erstlese-Bücher, Vorlesebücher, Bilderbücher, dazu eine umfangreiche Elternbibliothek mit Ratgebern. Außerdem gibt es regelmäßiges Vorlesen mit Hans-Peter Bause, den Sommerleseclub, Bastelangebote…
    Die Außenrückgabe feier ich sehr, die hat mir auch schon einige Gebühren erspart 🙂
    Gerade für Familien ist die Bücherei Gold wert und meiner Meinung nach eine echte Empfehlung.

     
  3. 10

    Die ? Mao Bibel , Polit Programm der ? ist scheinbar auch nicht im Stadtbücherei Portfolio. ?

     
  4. 8

    Ein wenig Schmunzeln muss ich schon, denn ich zahle seit einigen Jahren den vom Rat beschlossenen Jahresgebührensatz von 16€. Aber mal ehrlich: Ob 12 oder 16€, das ist doch wirklich nicht die Welt. Ich bin froh, dass die Bücherei da ist, sowas gehört zu einer Kommune dazu, zivilisiert und friedlich in diesen unfriedlichen Zeiten. Und vor 12 Jahren, als Herr Neumann anfing, war Herr Hönes leider schon viele Jahre verstorben und schon in dieser kurzen Zeit gab es drei „Amtsleiter“ (m/w) und drei „Dezernenten“ (m/w), so wie wer weiß wie viele Mitglieder (m/d/w) im zuständigen Ratsausschuss über der Verwaltungsabteilung Bücherei. Onleihe heißt das Ding wohl auch in den Nachbarkommunen und darüber hinaus, scheint sowas wie ein Markenname zu sein. Das Gebäude in der Wasserstraße ist sicher nicht ideal, aber wenn wir Älteren uns erinnern, dann wird uns gewahr, dass der Marstall deutlich kleiner war, vom fehlenden Fahrstuhl fürs Publikum mal abgesehen, wenn auch schon mit den Regalen, die heute noch in der Wasserstraße stehen ;). Das mit den Öffnungszeiten habe ich auch in meinem Fragebogen der Kulturumfrage der Stadt angemerkt, gibt es da eigentlich schon irgendwas zu, also zu der Umfrage? Die Bücherei hatte ja für die Teilnahme geworben… Ein Schwätzchen habe ich durchaus in den letzten Jahren, mal abgesehen von Corona, mit dem Team der Bücherei gehalten, die Außenrückgabe hat mir schon mal spät abends die Mahnung, nebst Gebühren am nächsten Tag erspart und die aktuellen „Baustellenschilder“ an leergeräumten Regalen lassen erahnen, dass es in – kleinen- Schritten weiter geht. Samstag werde ich erstmal im Flohmarkt stöbern, ob nach Büchern zu „Sexualtität“ aus der Abteilung „Medizin“ sei aber hier nicht verraten 😉

     
  5. 7

    Der Artikel, lässt mich „sehr vermissen“…vor allem – das „früher war vieles besser“…kommt mir da in den Sinn und ja – früher war vieles besser.
    Und statt CD…lieber Vinyl und das Tonband (Revox) und die gute alte Braun Anlage-schon wird mir wohl ums Herz!

    So, jetzt laufe ich zum Plattenteller, lege „Dark Side of the Moon“ (Remastered) auf und lese Dürrenmatt „Die Physiker“ nochmal (oder zum 10 mal).

     
  6. 6

    „…der Nachfolger der Nachfolgerin von Hoenes, Jens Neumann, …“

    Die Nachfolgerin von Winfried Hoenes hieß Magdalena Michels und hat die Stadtbücherei 19 Jahre geleitet.

     
  7. 5

    Intensiv genutzt habe ich die Bücherei während meiner Jugend, damals im Obergeschoss des Marstalls. Die drei Fragezeichen, Jules Verne, Sachbücher, Spiele. Sehr gerne auch die SF-Reihe Mark Brandis. Leider gelang es mir erst während meiner BW-Zeit in Dülmen die fehlenden 4 Bände in der dortigen Bücherei auszuleihen….
    Klasse war dann die Tatsache, dass die Bücherei in Gummersbach auf meinem Weg vom Busbahnhof zur FH lag. Dann konnte man an 4 Tagen die Woche problemlos auch dort interessante Bücher ausleihen.
    Leider ergab sich die Zeit mit der Berufstätigkeit nicht mehr. Dennoch ist das haptische Erlebnis ein Buch in die Hand zu nehmen (und wenn möglich nicht zu schnell wieder aus derselben zu legen) ein wunderbares. Man fiebert dem Ende entgegen und würde sich gerne dann am Ende noch viele weitere Seiten wünschen…

     
  8. 4

    „…Jens Neumann, hat in den nunmehr zwölf Jahren seines Wirkens die Einrichtung behutsam in die Neuzeit überführt“

    Das Wort „behutsam“ trifft es wohlmeinend gut…

     
  9. 3

    Ein sehr schöner Artikel, der die Stadtbücherei fast zum Laptop mit Lederhose, der gelungen Synthese zwischen Tradition und (digialer) Moderne macht. Für mich waren die Räume der Stadtbibliothek nebst persönlchen Kontakten mit Herrn Hönes und anderen Klassenkameraden heilige Hallen, einer der geliebtesten Orte von Kleve. Eine Frage, die ich mir stelle ich. Werden wir durch die vielen digitalen Informationen auch klüger oder gar weiser? Ich kenne die Antwort nicht. Mir bleiben jedenfalls viele schöne Stunden eines Tet-a-Tets mit tollen Büchern über Kunst, Philosophie, Naturwissenschaft und Literatur, als Begleiter dann fürs ganze Leben in Erinnerung. Heute ist es etwas nüchterner, prosaischer, fehlt (mir) auch die Seele von Herrn Hönes, obwohl er noch durch die Bücher zu uns spricht. Lyriker wissen, ja das Dichter nie sterben und über ihre Werke über Jahrhunderte und tausende Kilometer mit uns reden aus dem Jenseits.

     
  10. 2

    Lob dem Autor für diesen treffsicheren Artikel zur Entwicklung der Klever Stadtbücherei. Er liest sich wie der Anfang eines guten Buches, das man dann nicht mehr aus der Hand lässt.

     
  11. 1

    Wäre das nicht, ein Thema für die kommende, neue Ausgabe: „Der Klever“, zu berücksichtigen ? Das wärst doch mal, oder ?