Hildegard Rexing, 1920-2021

Hildegard Rexing in ihrer Wohnung an der Hagschen Poort (Foto: Torsten Barthel)

Als junge Erwachsene verließ sie ihre Heimatstadt Kleve, erst in Richtung Köln, und später dann, vor einer Ewigkeit, in Richtung Amerika. New York wurde die neue Heimat von Hildegard Rexing, dort arbeitete sie, dort lebte sie, dort genoss sie viele Jahre ihren Ruhestand – bis sie, kurz vor ihrem 100. Geburtstag, den Entschluss fällte, ein letztes Mal in ihrem Leben umzuziehen. Sie kehrte zurück nach Kleve. Dort feierte sie im Oktober des vergangenen Jahres in ihrer Seniorenwohnung an der Hagschen Poort ihren 100. Geburtstag. Auch die langen Monate des Lockdowns überstand sie dort, doch nun, ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, wo sie vielleicht das Leben in ihrer Heimatstadt wieder mehr hätte genießen können, verstarb Hildegard Rexing an den Folgen eines Schlaganfalls, wie ihre Nichte Susanne Rexing mitteilte.

In der Zeitschrift Der KLEVER erschien Ende des vergangenen Jahres das Porträt der bemerkenswerten Frau. Hier, zum Abschied von Hildegard Rexing, der Text:

Hildegard Rexing sitzt im Patrizierhaus an der Hagschen Poort, im Appartement Nr. 7, auf einem eleganten Ledersessel. Auf dem Beistelltisch liegen einige Ausgaben des Nachrichtenmagazins Der Spiegel, darüber die Fernbedienung. Sie hat viel Fernsehen geschaut in den vergangenen Tagen, die amerikanischen Präsidentschaftswahlen. 

„Trump hat mich immer aufgeregt“, sagt sie. Erst vor drei Jahren hatte sie ihre „Dual Citizenship“, die zweifache Staatsbürgerschaft erhalten. In diesem Jahr hätte sie erstmals wählen können, und sie lässt auch keinen Zweifel daran, wen sie gewählt hätte – doch soweit kam es nicht, denn wenige Wochen vor der Wahl hat sie Amerika verlassen. Jetzt ist sie wieder in Kleve. Der Stadt, in der sie geboren ist. Vor genau hundert Jahren, am 31. Oktober 1920.

Ende November 2020, kann sie zurückblicken auf Jahre voller Freiheit, reich an Erfahrungen und Entfernungen. Hildegard Rexing ist Kleve aufgewachsen, hat in Köln gewohnt, und sie hat ein Menschenleben lang in New gelebt. Und nun ist sie nur einen Steinwurf entfernt von den Orten ihrer Kindheit. Vom Geschäft ihres Vaters an der Kavarinerstraße; von der Schule, die in der Kapitelstraße lag. 

Erinnerungen, Hildegard Rexing hat noch welche an das alte Kleve. Damals, als der Kermisdahl wochenlang zugefroren war und die Menschen darauf Eis liefen. Ein Klever Bäcker hatte auf der Eisdecke ein Büdchen aufgebaut und verkaufte gegen Reichsmark und Pfennige seine Spezialitäten an Jung und Alt. Wie lange das her ist? Ein Menschenleben, schon länger als normal gerechnet.

Ende der Zwanzigerjahre des vergangenen Jahrhunderts muss das gewesen sein, sagt Hildegard Rexing. Sie war ein Kind damals, ein Kind des alten Kleve. Geboren 1920, Tochter eines Möbelhändlers, dessen Geschäft nun in vierter Generation von ihrer Nichte Susanne Rexing geführt wird. 

In ihrer Jugend besuchte sie die Marienschule an der Kapitelstraße, das katholische Lyzeum. Mit dem sogenannten „Einjährigen“, der Fachoberschulreife von heute entsprechend, verließ sie die Schule. 1940, der Zweite Weltkrieg war schon ausgebrochen, besuchte sie in Leipzig eine Dolmetscherschule. Mit dem Examen für Englisch kehrte sie nach Kleve zurück.

„Aber was sollte ich mit Englisch in Kleve?“, erinnert sie sich. Mit den Fremdsprachenkenntnissen war sie für die Kleinstadt am Niederrhein eindeutig überqualifiziert, sodass sie sich nach möglichen Stellen anderswo umsah. Im „Clevischen Volksfreund“, der damaligen Lokalzeitung, stieß die junge Frau auf ein vielversprechendes Inserat. Die Ford-Werke in Köln suchten eine Stenotypistin für die englische Sprache. 

Sie bewarb sich, „und – was soll ich sagen – ich wurde angenommen“. Es gibt einen erhaltenen Mitarbeiterausweis aus jener Zeit, „für das Gefolgschaftsmitglied Frl. Hildegard Rexing“, Nr. 386, das eine junge Frau zeigt, die eine gestreifte Bluse trägt und erwartungsvoll in die Welt blickt, in der zu diesem Zeitpunkt schon der Weltkrieg in seiner ganzen Grausamkeit tobte.

Hildegard Rexings Bruder hatte damals schon das Geschäft der Eltern übernommen (der Vater war 1940 gestorben), und sie hatte sich mutig entschieden, ihrer Heimatstadt Kleve den Rücken zu kehren. Köln erschien als eine verlockende Stadt, selbst wenn sie einem nur ein Zimmer in der Märchenstraße in Holweide bot. Und noch war die Heimat in greifbarer Nähe. Die Bahnfahrt dauerte damals wie heute rund zwei Stunden.

In der Metropole am Rhein erlebte Hildegard Rexing das Ende des Krieges, die Entbehrungen in den Jahren danach und auch den langsam wieder wachsenden Wohlstand in Deutschland. Sie arbeitete weiter bei Ford, mittlerweile war sie Chefsekretärin, privat ungebunden, und sie wusste für sich, dass sie noch mehr von der Welt sehen wollte. 

Es fügte sich, dass eine Kollegin zu Beginn der Fünfzigerjahre nach New York gewechselt war. Sie war es, die der Kleverin von dem Leben in der damals größten Stadt der Welt erzählte, und die ihr das Angebot machte: „Komm` doch auch rüber!“ Freie Stellen gab es in ihrem Unternehmen.

Hildegard Rexing war 34, als sie sich ein zweites Mal in ihrem Leben auf eine Arbeitsstelle bewarb. Sie erhielt eine zweite Zusage: „Ich habe gedacht: Gehe mal ein Jahr rüber. Vielleicht auch zwei.“ 

Es wurden 65. Als sie kam, war Kriegsheld Dwight Eisenhower Präsident und Konrad Adenauer Bundeskanzler. Die Kanzler und Präsidenten kamen und gingen, in den USA John F. Kennedy, Lyndon B. Johnson, Richard Nixon, Gerald Ford, Jimmy Carter, Ronald Reagan, George Bush, Bill Clinton, George W. Bush, Barack Obama, Donald Trump. 

Woran erinnert man sich als erstes, wenn man an die Zeit des Wechsels zurückdenkt? Hildegard Rexing kommen die Strapazen der Anreise in den Sinn. Sie kam per Schiff, 1955 ging sie in Rotterdam an Bord der Rijndam. Nach einem Zwischenstopp in Southampton nahm der Dampfer der Holland-Amerika-Linie Kurs auf New York. Nach einem Tag auf hoher See jedoch musste die Rijndam umkehren – Maschinenschaden! Wie die meisten anderen der 890 Passagiere auch blieb Hildegard Rexing an Bord des Schiffes, während es auf dem Trockendock repariert wurde. Für Landausflüge reichte das Geld nicht.

Mit fünf Tagen Verspätung traf der Passagierdampfer schließlich in New York ein. „Ich habe mir gesagt: Das war meine letzte Schiffsreise“, so Hildegard Rexing. „Von da an bin ich immer geflogen.“ Das hohe Alter gewährt einem den Luxus, die grundsätzlichen Dinge zu sehen. Es gab eine Zeit der Schiffsreisen macht. Und eine Zeit danach, die der Flugzeuge.

New York war kalt, „lausig kalt“, so die erste Erinnerung an die neue Heimat. Und dann im Sommer viel zu heiß, Klimaanlagen waren noch nicht im Einsatz. „Die Hitze war ich nicht gewohnt.“

Im Stadtteil Queens (für Kenner: in Jackson Heights) bezog sie eine kleine Wohnung. Sie weiß noch, dass sie ein Bett hatte, dass sich senkrecht an die Wand klappen ließ, „Murphy-Bett nannten die Amerikaner das, und dadurch wurde das kleine Zimmer doch recht groß“.

In New York, bei der deutschen Firma Zeiss, musste Hildegard Rexing zunächst als einfache Schreibkraft wieder ganz unten anfangen. Dann ging es Etage um Etage nach oben. Wenige Jahre später hatte sie ihr Büro bei der Firma Zeiss in einem der oberen Stockwerke des Bürohauses und war verantwortlich für die Abteilung „Medizinische optische Geräte“.

Sie arbeitete mitten in der Stadt, an der eleganten 5th Avenue, und gegenüber war die New York Public Library. Das ist nicht die Stadtbücherei von Kleve und auch nicht die von Köln, sondern ein Universum für sich. Eines mit 53 Millionen Büchern. 

Nicht, dass es in Deutschland nicht auch Büchereien und Möglichkeiten der Zerstreuung gegeben hätte, aber in New York eröffnete sich der jungen Frau aus Kleve eine neue Welt – es gab nahezu alles, und all das war gleich vor der Haustür verfügbar. „Mir gefiel es gut“, so Hildegard Rexing. „Das Leben war so frei. Diese Freiheit, das war ein ganz starkes Gefühl.“

Man interessiert sich für Simone de Beauvoir, Jean Paul Sartre und die französischen Existenzialisten? Kein Problem, irgendwo in der Stadt gibt es eine Schule, an der sich etwas darüber in erfahrung bringenlässt. Die Geschichte des Mittelalters? Kein Problem, auch da findet sich was. Und dann gibt es die Museen, das Metropolitan Museum oder das Museum of Modern Art, die so viel Schätze bergen, dass sich auch beim hundertsten Besuch noch etwas Neues entdecken lässt.

Natürlich hatte Hildegard Rexing auch ein Abo für die Met, für die weltberühmte Metropolitan Opera. Sie hatte sogar noch Karten für eine Aufführung Anfang dieses Jahres, doch die Vorstellung musste wegen Corona ausfallen. In ihrer freien Zeit bereiste sie die gesamten Vereinigten Staaten, fuhr nach Mexiko, ritt über die Rocky Mountains, immer die Zeiss Ikon Contaflex in der Hand, mit der sie ihre Entdeckungstouren dokumentierte.

Klar, dass Kleve in diesen Jahren meistens nur die ferne Ahnung einer Jugend war, die fast schon zu einem anderen Leben gehörte. Aber ganz weg war die Heimat nie, allein schon deshalb, weil Hildegard Rexing zu ihren niederrheinischen Verwandten Kontakt hielt. Und die kamen sogar regelmäßig zu Besuch, einmal sogar Bruder Hans (2016 gestorben) mit seinem gesamten Kegelclub.

Klever Qualität half auch über ein großes Manko in der neuen Welt hinweg. „Das Brot!“, sagt Hildegard Rexing, „Ich konnte es gar nicht fassen, es war weich wie Watte.“ Wer immer aus Kleve sie in New York besuchte, er musste für sie zwei Pakete Schwarzbrot von der Klever Bäckerei Heicks mitbringen. Doch auch in den USA besserte sich die Qualität der Backwaren. „Nach der Weltausstellung 1964 in New York lernten die Amerikaner, dass es auch andere Formen von Brot gibt“, so Rexing. Man lernt, die großen Linien zu ziehen.

1981, das ist nun auch schon knapp vier Jahrzehnte her, zog Hildegard Rexing an den Stadtrand von New York, nach Tarrytown im Norden der Metropole. Von ihrem Balkon aus sah sie den Hudson River, und im Herbst, wenn die Bäume ihr Laub abgeworfen hatten, blickte sie auf die Skyline von New York. 

In Tarrytown war sie auch, als die Terroristen mit gekaperten Passagierflugzeugen die Türme des World Trade Centers attackierten und zum Einsturz brachten. „Ich war mit dem Auto am Morgen unterwegs, um zum Tennisplatz zu fahren, da war in den Nachrichten von einem Unfall mit einem Flugzeug die Rede.“ Sie ging Tennisspielen. „Als ich zurückkam, war das ganze Handy voller Nachrichten.“

Gut drei Jahrzehnte eines Lebens als Rentnerin hatte sie hinter sich, als sie den Entschluss fasste, noch einmal etwas ganz Neues zu wagen. „Zu Weihnachten im vergangenen Jahr ging es mir nicht so gut“, berichtet sie. Und auch die Menschen, die sie ihr Leben lang begleitet hatten, darunter auch ihr langjähriger Freund Helmut, ein aus Deutschland stammender Künstler, waren nicht mehr. Sie sagt, dass sie noch eine junge Freundin hat, sie heißt Margret. Jung aus Sicht einer Hundertjährigen: Margret ist auch schon 78 Jahre alt.

Mit sanfter Überredungskunst der Klever Verwandten fiel die Entscheidung, die Zelte in New York abzubrechen. Corona verzögerte die Übersiedlung allerdings. Rainer, der Mann von Susanne Rexing, flog nach Amerika, um zu helfen. Es dauerte, bis alle Formalitäten erledigt waren – und dann musste es auf einmal sehr schnell gehen. „Die ganze Wohnung war noch eingerichtet, als ich die Tür abgeschlossen habe. Obwohl ich es ja wusste, dass es ein Abschied für immer ist, fühlte ich mich wie in einem Schockzustand. Ich kam gar nicht zum Nachdenken.“

Wenn sie zurückblickt, sagt sie: „New York ist meine Heimat geworden. Kleve war mir früher zu eng. Aber nun, in meinem Alter, bin ich froh, dass alles etwas kleiner ist.“

Nun muss Margret, die Freundin, den Haushalt in der alten Heimat auflösen, Hildegard Rexing hält mit ihr per E-Mail Kontakt. Auf dem Schreibtisch in ihrem Schlafzimmer steht ein neuer Laptop, Windows 10 ist das Betriebssystem, die Nutzerin heißt Hildegard, das Mailprogramm im Browser ist mit wenigen Klicks gestartet. Das Gerät bereitet ihr keine Mühe – als der erste PC überhaupt auf den Markt kam, war Hildegard Rexing bereits 61 Jahre alt.  

In Tarrytown ist sie noch bis zuletzt mit dem Auto gefahren („Schreiben Sie das bloß nicht!“), in Kleve macht sie zu Fuß kleine Besorgungen oder wird von der Verwandtschaft chauffiert. Wenn das Telefon klingelt, geht es um bürokratische Dinge (versuchen Sie mal, mit 100 eine Krankenkasse zu finden), wenn die Türklingel läutet, wird das Mittagessen serviert, und wenn sie aus dem Schlafzimmerfenster blickt, sieht Hildegard Rexing wie in ihren Kindertagen die Schwanenburg: „Nicht so spektakulär wie die Aussicht auf New York, aber auch sehr schön.“

Deine Meinung zählt:

7 Kommentare

  1. 7

    Frau Rexing (nicht Hildegard) ging mit Waltraud Walter und auch einmal mit mir zum Madison Square um die Tennis Finale anzuschauen. Ein Ereignis an den ich oft zurückdenke. Mein Beileid. Sigrid Fuchs

     
  2. 6

    Vielleicht findet jemand die Kommentare bzw. Beileidsbekundungen anmaßend auch wenn sie so nicht gemeint sind. Wenn sonst im Kleveblog vom Tod einer Klever Persönlichkeit berichtet wird, schreibe ich nichts dazu, weil ich die Verstorbenen nicht kenne und ich hoffe das bleibt auch so. Diesmal habe ich doch etwas geschrieben, ist vielleicht nicht angemessen gewesen.

     
  3. 5

    @rd Betr.:Bewertungen:
    Wäre es nicht an der Zeit, vorübergehend die Bewerungsfunktion auf Hold zu setzen ?
    Wenn sogar Beileidsbekundungen mit „ich mag nicht“ – Stimmen überströmt werden, kann ich mir nur vorstellen, das man aus der Ecke der der transformten Transformandi seine Wut auf den Blog abreagieren möchte, und dieses Forum sollte man ihnen nicht geben.

    Auch von meiner Seite an dieser Stelle meine herzliche Anteilnahme an die Familie Rexing.

     
  4. 4

    To the family of H. Rexing
    Condolences to you. I worked with her in New York, we remained in contact after her retirement. For me she was a mentor when I worked at Zeus`s and an encourager after I left Zeus`s for ordained Ministry. She will be greatly missed but I celebrate a life well lived.

     
  5. 3

    Familie Rexing und Susanne unser Beileid !
    Ich war auch mal in Amerika, New York. Dort zu leben, hier aufzubrechen, dort zu verweilen…dazu gehört Mut. Und Wille.
    Respekt an diese Frau!

     
  6. 2

    Frau Rexing,was für ein Verlust an Wissen +Erfahrung. „Amerika du hast es besser „( J.W. Goethe ) Eine beneidenswerte Frau die den Amerikanischen Traum nach WK II gelebt hat ? Sicher mit allen ups+downs .Eine Erfahrung die es heut wert wäre fest zu halten. ☝🏽 wenn sich jemand die Zeit genommen hätte ihr zu zu hören.🤔