Ein fast tödlicher Stich

Ende vergangener Woche begann am Landgericht Kleve der Prozess gegen einen 21 Jahre alten Mann, der in der Nacht von Altweiberkarneval zu Freitag einen Mann mit einem Messer niedergestochen und lebensgefährlich verletzt hat. Hier der ausführliche Bericht (in der RP musste er aus aktuellen Gründen stark eingekürzt werden)…

Der Fall, der im Saal 110 der Schwanenburg vor der Jugendkammer des Landgerichts Kleve unter dem Vorsitz von Richter Christian Henckel verhandelt wird, streift eine der zentralen Menschheitsfragen, die gerne zu vorgerückter Stunde erörtert werden: Wie ist es juristisch zu werten, wenn man volltrunken und zugedröhnt zu einer Straftat schreitet?

Auf der Anklagebank sitzt, von Joris Ernst verteidigt, Eryc N., 21, polnischer Staatsbürger, dem die Staatsanwaltschaft versuchten Totschlag und gefährliche Körperverletzung vorwirft. Zur Tatzeit, in der Nacht von Karnevalsdonnerstag auf Freitag 2011, war er erst seit wenigen Stunden in Deutschland, völlig übernächtigt, hatte Marihuana geraucht, reichlich Bier getrunken und gemeinsam mit Bekannten eine Flasche Jägermeister gelehrt. Ausgerechnet in diesem Zustand glaubte er einem Freund in einer lautstarken Auseinandersetzung in der Brüningstraße (»Stadt ohne Sheriff«) beistehen zu müssen.

Vor Gericht sagt er nun bereitwillig aus. Ihm ist klar, dass er zugestochen hat, aber ansonsten fallen immer wieder die Sätze: »Ich erinnere mich nicht mehr. Ich weiß es nicht.«

Nimmt man zu Gunsten des Angeklagten an, dass dieser tatsächlich reinen Tisch machen will, zeichnen seine Aussagen vom Geschehen in der fraglichen Nacht ein tristes Bild der Verkettung einiger unglücklicher Umstände.

N. hatte schon einmal drei Monate in Kleve verbracht, erfolglos auf der Suche nach Arbeit, erfolgreich im Bestreben, sich mit legalen und illegalen Substanzen in einen Zustand der Geschäftsunfähigkeit zu katapultieren und abzulenken. Dann ging er nach Polen zurück, um einen Monat später erneut die Reise an den Niederrhein anzutreten, weil ihm eine niederländische Zeitarbeitsfirma einen Job in Aussicht gestellt hatte.

Etwa 14 Stunden vor der Tat kam er in Kleve an, fuhr als erstes sogleich weiter die Niederlande, um sich dort in einem Coffieshop Marihuana zu besorgen und zu konsumieren. Als zweites besorgte er sich eine Lampe für sein Fahrrad, als drittes die Flasche Jägermeister, die sofort in einer Wohnung in der Brüningstraße ausgetrunken wurde.

Infolge einer bei der Polizei angezeigten nächtlichen Ruhestörung (davon weiß der Angeklagte aber nichts mehr) kam es dann zwischen den Zechern und Nachbarn im Eingangsbereich des Mehrfamilienhauses zu einer Auseinandersetzung. N. beobachtete das Geschehen erst vom Balkon aus, dann aber fasste er den fatalen Entschluss zu »helfen«.

N. erzählt: »Ich habe reflexartig zu einem Messer gegriffen, das auf dem Tisch lag, weil wir damit einen Kuchen geschnitten hatten. Dann bin ich herunter gegangen und habe zugestochen. Ich weiß nicht warum, aber ich habe zugestochen. Ganz sicher wollte ich niemanden umbringen, das liegt nicht in meiner Natur. Es tut mir sehr leid, was passiert ist. Ich möchte den Geschädigten um Verzeihung bitten.«

Der Geschädigte, ein 22 Jahre alter Pole, der auch als Nebenkläger auftritt, hatte zum Tatzeitpunkt seinen Anteil einer gemeinschaftlich geleerten 0,7-Liter-Flasche Wodka intus. Er schilderte dem Gericht indes überzeugend, wie er noch versucht hatte, zwischen den streitenden Parteien zu schlichten. Den Täter sah er kaum, das Messer gar nicht: »Ich spürte den Stoß, lief noch ein paar Schritte, sagte etwas zu meinen Freunden und wurde dann ohnmächtig.«

Die Klinge drang zwischen der fünften und sechsten Rippe in seinen Körper ein, durchstach den mittleren Lungenlappen, verletzte den unteren und stoppte knapp vor dem Herzen. »Der hat richtig Glück gehabt«, berichtete die Ärztin, die ihn im Gocher Krankenhaus operierte. Zu diesem Zeitpunkt hatte das Opfer schon 3 Liter Blut verloren. »Ohne Behandlung wäre er höchstwahrscheinlich verblutet.«

Der Prozess wird am Dienstag, 26. Juli, um 9:00 Uhr fortgesetzt.

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