Das Grauen, die Gräue, die Grauigkeit – alle Farben sind weg.

Grauzone Kleve

Als der britische Lumismatiker Earl Grey Anfang des 19. Jahrhunderts seinen berühmten Grauigkeits-Index entwickelte, um die Gräue der Londoner Novembertage klassifizieren zu können, schuf er damit ein heute weitestgehend vergessenes Instrument, um die Depression, die sich beim Blick nach draußen einstellt, numerisch zu erfassen. Die Skala reichte von 1-100, wobei der Wert 100 für einen optischen Zustand der Welt herhalten musste, der sich einstellt, wenn ein am Grauen Star erkrankter Mensch auf eine Landschaft blickt, die 20 cm hoch mit feiner Vulkanasche bedeckt ist.

Heute war Kleve bei 96, gestern waren es 94, und am Montag lag die Grauigkeit der Stadt sogar bei 97. Seit Beginn der Aufzeichnungen absolute Höchstwerte, ein Zusammenhang mit der Klimakatastrophe erscheint denkbar. Außerhalb der eigenen vier Wände wird fast nur noch die Farbe des Zifferblatts der Schwanenturmuhr (Gold) und die Farbe des Glühweins in der Steinguttasse (dunkelrot) wahrgenommen, für alles andere wirkt die Welt so, als hätte unsereins den Farbfilm vergessen. Sogar tagsüber sind alle Katzen grau.

Gräue, wie sie sich dem Fotografen J. Schäfer offenbarte

Mit der Digitalkamera aufgenommene Bilder, die laut Herstellerangaben 20 und mehr Megapixel haben, lassen sich zur Zeit auf wenige Byte komprimieren, weil es ohnehin nur noch fünf oder sechs Schattierungen von Grau gibt. Die Zeiten von vor Corona, als es wenigstens noch „50 shades of grey“ gab, sind wie ausgelöscht. Es ist, als hätte der gesamte Farbraum Skorbut. „Dezember lässt sein graues Band wieder flattern durch die Lüfte“, heißt es dazu in einer erst kürzlich entdeckten Frühfassung des bekannten Gedichts von Eduard Mörike, der offenbar später aus rein kommerziellen Gründen den Schauplatz seines Poems ins Frühjahr verlegte.

Das graue Band des Dezembers (Foto: Klaus Oberschilp)

Um die Gefahren der allumfassenden Gräue zu minimieren, erwägt die Stadtverwaltung, an den Ampeln Signalhörner anzubringen, die die fast nicht mehr erkennbaren Farben Rot, Gelb und Grün in unterschiedlichen Tonhöhen darstellen sollen, damit die Autofahrer wenigstens einen Anhaltspunkt für ihr Verhalten im Straßenverkehr finden. Psychologen raten auch zum Kauf von getönten Brillen, zum Beispiel in Orange, wie sie etwa der bekloppte Nachbar von Kommissar Beck in den alten Scandi-noir-Filmen trägt, um das gefürchtete, depressionsauslösende Stockholmgrau zu überlisten.

Jegliche Farbe ist aus unserem Leben gewichen

Empfohlen wird zudem der maßvolle Konsum von farbenprächtigem Alkohol (zum Beispiel Aperol Spritz), der bei den Menschen die sogenannte Blauverschiebung auslöst. Alles und jeder erscheint sofort viel freundlicher und schöner. Abgeraten wird hingegen von farblosen Getränken wie Wodka, die die Grauigkeit des Alltags bis zur Unkenntlichkeit weiter verwässern.

Unser Leben, es sieht aus wie Graupensuppe ohne Gemüseeinlage. Oder wie Berliner Schnee nach einer Woche. Eine alles dominierende graue Pampe, die jede Form der guten Laune vernichtet. Die Menschen sehen nicht mehr rot, sie sind einander nicht mehr grün, sie begegnen sich in der indolenten Indifferenz einer achtstufigen Grauskala.

Viele Mitbürger gehen aus Verzweiflung in Bastelgeschäfte und öffnen dort heimlich Wassermalfarbkästen, um endlich mal wieder so etwas wie „Ultramarinblau“ zu sehen. Etliche suchen auch in Malergeschäfte auf (z. B. Boesten, Kleve) und lassen sich unter Vorspiegelung falscher Tatsachen Farbkataloge zeigen. Wieder andere schauen voller Wehmut in ihrem Portemonnaie auf das leuchtende Grün der 100-Euro-Scheine, das sonnige Gelb der 200-Euro-Scheine und das satte Violett des 500-Euro-Scheine, die sich dort in einem fröhlichen Farbkonzert abwechseln. Doch die Inflation frisst die Scheine weg, das ist mal sicher.

Wie lange halten die Menschen das noch aus? Es ist bezeichnend, mehr als bezeichnend, dass die künftige Regierung sich Ampel-Koalition nennt. Möge sie die Kraft der Primär- und Sekundärfarben zurück in unser Leben bringen!

Die Ampel ist gefordert: Diese Farben müssen sofort zurück in unseren Alltag (Farbenkreis, aquarellierte Federzeichnung von Goethe, 1809, Original: Freies Deutsches Hochstift – Frankfurter Goethe-Museum)
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9 Kommentare

  1. 9

    @7. Peter+Brückner
    Cannabis mit minimalem THC-Gehalt für medizinische Behandlungen niederschwellig ohne bürokratische Hürden für alle Patienten, die davon profitieren können, verfügbar zu machen, fände ich richtig. Was Cannabis mit normalem THC-Anteil angeht, habe ich damit nicht unbedingt ein Problem. Alkohol hat eine um ein Vielfaches zerstörerische Wirkung sowohl direkt als auch indirekt. Aber worauf 90% der Menschen in Deutschland warten, sind Verbesserungen im alltäglichen Leben. Z.B. eine medizinische Versorgung und Pflege, die für alle unabhängig vom sozialen Status, der Krankheit und den finanziellen Verhältnissen ein lebenswertes Leben ermöglichen. Ich würde mich freuen, wenn die Ampelkoalition die heißen Eisen anpacken würde, die sich auch schon seit längerem stapeln. Wenn dann noch Zeit ist, können sich die Damen und Herren der Ampel gerne noch Gedanken über Cannabis machen.

     
  2. 8

    Der Farbkreis von Goethe ist eine coole Sache. Ich mach mir auch einen und lege ihn mir auf den Schreibtisch. Dieser November war grottig und die täglichen Nachrichten machen ihn zumindest fast für jeden „subdepressiv“.Eigentlich mag ich den Winter aber das monochrome macht einen fertig. Wie gesagt, so ein Farbkreis ist nicht übel oder gar malen, mal wieder den Farbkasten rausholen.Da muss ich an Loriot denken, der einem Rentnerehepaar die Couch neu überziehen soll und diesen armen Leuten alle möglichen Grautöne empfiehlt. Ein schönes braungrau oder ein leichtes blaugrüngrau usw.

     
  3. 7

    Legalize it- Peter Tosh

    Die Freigabe von Cannabis hilft die Welt etwas bunter zu machen. Sh. Koalitionsvertrag Rot-Grün-Gelb.

     
  4. 6

    @Nur mal so Stimmt, der ist es. Ich dachte auch die ganze Zeit, dieser Wohnblock passt doch nicht nach Ystad. Beck ermittelt ja auch in Stockholm. Wird korrigiert. Danke 🙂

     
  5. 3

    Hat ja der Zapfenstreich für Mutti Merkel wieder gezeigt: Du hast den Farbfilm vergessen, mein Michael.

     
  6. 1

    Spielzeug in leuchtenden Farben eignet sich gut zum Ãœberbrücken der Dunkelheit vom Nachhausekommen bis zum Schlafengehen und lässt einen die endlose Nichtfarbigkeit des Tages vergessen. Ich liebe Klemmbausteine besser bekannt unter dem Markennamen eines dänischen Spielzeugherstellers. Klemmbausteine sind für jedes Alter geeignet und lassen der Phantasie alle Möglichkeiten offen. Es ist auch nur beim ersten Mal peinlich, wenn man die Kisten mit den Klemmbausteinen nach dem Abendessen hervorholt und die Family doof guckt.