Fall Freistühler: Ein ehemaliger Schüler des Stein-Gymnasiums schildert, was damals geschah

Altehrwürdiges Gemäuer mit dunkler Vergangenheit: Freiherr-vom-Stein-Gymnasium


(Aktualisiert, mit weiteren Details) Wolfgang P. (Name geändert) war die Person, die dafür sorgte, dass die Machenschaften des ehemaligen Direktors des Freiherr-vom-Stein-Gymnasiums, Alfons Freistühler nach Jahrzehnten nun doch noch publik geworden sind. Der heute knapp 60 Jahre alte Klever hatte sich im Dezember des vergangenen Jahres in der Pfarrei St. Mariä Himmelfahrt Kleve die Studie der Wissenschaftler der WWU Münster zum sexuellen Missbrauch im Bistum Münster ausgeliehen. Nachdem er das Werk gelesen hatte, beschwerte sich Wolfgang P. bei Propst Johannes Mecking, dass in dem Werk ein „Intensivtäter“ fehle.

Sein Name fehlte: Alfons Freistühler

Mecking vermittelte als Ansprechpartner den Interventionsbeauftragten des Bistums, Peter Frings (der selber einmal Schüler am Freiherr-vom-Stein-Gymnasium  war, sogar zu der Zeit, als Freistühler Direktor war). Seitdem besteht ein Kontakt zwischen den beiden. Als Mecking dann von Frings erfuhr, dass Wolfgang P. nicht der erste ist, der einen sexuellen Missbrauch vom einstigen Schuldirektor beim Bistum angezeigt habe, sei dieser „aus allen Wolken“ gefallen.

„Ich brauche keinen Mittagsschlaf“

P. meldete sich auch bei kleveblog und verfasste einen Kommentar, in dem er von den unfassbaren Verhaltensweisen Freistühlers im Laufe einer mehrwöchigen Ferienfreizeit berichtete. Davon, dass Freistühler täglich einen Mittagsschlaf hielt, bei dem sich jeweils einer der zu diesem Zeitpunkt etwa zehn bis zwölf Jahre alten Urlauber zu ihm gesellen musste. P. machte das einmal mit, bei der nächsten Einladung, so sagt er heute, „hatte ich den Mut ‚Ich brauche keinen Mittagsschlaf‘ zu antworten“.

Die Reise kam zustande, weil der Schuldirektor die Mitreisenden aus seinem Unterricht rekrutieren konnte. P. erinnert sich: „Ich hatte Religionsunterricht bei Herrn Freistühler. Nach dem Unterricht hat er mich gefragt, ob ich mit ihm in den Ferien in Urlaub fahren wolle. Ich war ziemlich perplex und konnte spontan nicht nein sagen. Ich hatte keine nähere Beziehung zu Herrn Freistühler, aber er hatte offensichtlich ein Auge auf mich geworfen. Danach hat er dann meine Eltern gefragt. Die fühlten sich geehrt.“

(Der vorige, neu eingefügte Abschnitt ist auch die Antwort auf einen Kommentar von Lehreroderso, der die Frage aufwarf, ob der Ausgangspunkt der Übergriffe ein kirchlicher oder ein schulischer war. Offenbar sind beide Sphären vermengt worden (kirchliche und schulische Autorität, schulisches Setting). Und wie W. anmerkt, ist diese Frage den Missbrauchsopfern „völlig schnurz“.)

Der Urlaub, der Mitte der siebziger Jahre stattfand, begann in Tirol auf einem abgelegenen Bauernhof. Die Reisegruppe bestand aus sieben männlichen Kindern, Freistühler und einem Priesteranwärter. P. erzählt: „Freistühler wanderte jeden Morgen mit uns hinab zu einer kleinen Kapelle. Wir mussten alle mitkommen. Drei von uns mussten Messdiener spielen. Da saßen wir jeden Morgen mit zwei alten Frauen und unserer Gruppe und spielten Heilige Messe.“

Die Reise ging weiter nach Mals (Südtirol) und endete in Rom. Zu den sieben Jungen aus Kleve gesellte sich als weiteres Mitglied auch die jüngste Tochter des Hofs, in dem die Gruppe zuerst übernachtet hatte. Sie war, so schätzt es P., etwa sieben bis neun Jahre alt, also deutlich jünger als die Jungen. „Sie blieb isoliert“, berichtet P., „aber auch sie war regelmäßig mit Freistühlers Mittagsschlaf an der Reihe.“

„Beklemmende Atmosphäre“

P. meint sich zu erinnern, dass die Übernachtungen in Klöstern stattfanden. Jede noch so kleine Kapelle, die am Wegesrand stand, musste besichtigt werden. „Wir befanden uns in einem Kokon, in dem es nur geweihte Orte gab“, so P. „Wir Jugendliche hatten kaum Kontakt zueinander. Man spielte nicht zusammen. Es herrschte eine sehr beklemmende Atmosphäre. Wir fühlten uns von der Außenwelt isoliert. Und wir konnten nicht über das reden, was uns doch so offensichtlich verband – der Mittagsschlaf mit Freistühler.“

Am Sonntag Abend meldete sich auf kleveblog die Tochter einer mittlerweile verstorbenen Schulsekretärin, die von Dokumenten berichtet, die dass merkwürdige Arrangement bestätigen. Sie schreibt: „Meine Mutter war in den 70ern dort als Schulsekretärin tätig. Sie hat wohl einige Briefe für Herrn Freistühler geschrieben. Kurz vor ihrem Mutterschutz im Jahr 78 (und dem darauf folgenden unabwendbaren Beschäftigungsende – wie es damals so war) hat sie von zwei Briefen Abschriften gefertigt. In den Briefen an die Klosterschwestern Germara, Hermina etc. geht es vor allem um die Raumaufteilung bei Besuchen dort (ein Kloster in Italien?), dass die Jungen nicht zusammen im Zimmer schlafen, sondern einer besser mittags und nachts bei ihm, weil sie sonst zu unruhig sind, oder auch beide bei ihm … es schüttelt mich, wenn ich daran denke.“

Die Kinder selbst thematisierten die Vorkommnisse nicht. „Wir Kinder haben allesamt geschwiegen. Über so etwas redete man nicht. Aber jedem war klar, was Freistühler mit den anderen tat. Er war dabei tatsächlich zärtlich, und genau das hätte eine Form von Abhängigkeit erzeugen können. Und zugleich ein Riesenschamgefühl. Das ist der Machtmissbrauch, den diese Täter ausnutzen“, so P. im Rückblick auf die damaligen Geschehnisse.

Als Wolfgang P. 18 Jahre alt war, fragte er einen Kollegen aus seinem Abiturjahrgang, der ebenfalls an dieser Reise teilgenommen hatte, ob man nicht mit dem, was ihnen auf dieser Reise widerfahren sei, „etwas machen“ müsse. Der Mitschüler habe geantwortet: „Ich weiß genau, was du meinst, aber stell‘ dich nicht so an.“ Dann habe gesagt, wenn er mit Priestern aus anderen Pfarreien auf Messdienerreise fahre, gehöre das selbstverständlich dazu.

Kollegium 1972

Anfang der achtziger Jahre traute sich – zumindest in Kleve – noch niemand, sexuellen Missbrauch offen anzusprechen. Die Zeit war noch lange nicht gekommen. Es wurde vertuscht und verschwiegen, selbst im Jahre 2010 noch, als ein Opfer ausdrücklich darum bat, die Vorfälle publik werden zu lassen. Und so dauerte nach dem Gespräch der beiden Abiturienten vier Jahrzehnte, ehe die Öffentlichkeit über die Verfehlungen des früheren Direktors Alfons Freistühler informiert werden konnte.

Deine Meinung zählt:

9 Kommentare

  1. 9

    Der Fall Alfons Freistühler hat erneut gezeigt, dass das sogenannte Dunkelfeld durch systematische (Akten-)Studien kaum aufzudecken ist. Schockierend ist aber auch die Aussage, die Wolfgang P. von seinem Mitschüler über dessen Erfahrungswissen von „Ministrantenreisen“ berichtet. Schließlich legt sie habitualisierten sexuellen Missbrauch durch Kleriker bzw. Pfarrer in der Region nahe. Wäre es vielleicht möglich, diese Aussage besagten Mitschülers (durch Befragung …) zu konkretisieren, um so das Wissen um (bisher unentdeckte)Täter zu erweitern? Hat es in der Diözese möglicherweise sogar regelrechte Netzwerke gegeben, die einen systematischen Täterschutz (auch auf der Managementebene des BGV) oder die Verschwiegenheit der „Mitbrüder im priesterlichen Dienst“ plausibel machen könnten?

     
  2. 8

    Was vielleicht wenig bekannt ist:
    Freistühler war Anfang der 50-er am Freiherr-von Stein-Gymnasium in Lünen tätig. Ich war dort von 1951-55 Schüler und hatte Freistühler als Religionslehrer. Wegen seiner stabilen Figur hatte er den Spitznamen Bomber.
    Missbrauchsfälle sind mir aus dieser Zeit nicht bekannt.

    Ich erinnere mich an ein Schreiben Freistühlers an meine Eltern, in dem er mein Fehlen bei einer Messe mit Kommunion scharf kritisierte.

    In den 60ern war Freistühler im Ring katholischer deutscher Burschenschaften sog. Ringseelsorger.

     
  3. 7

    Aus meiner Erinnerung gab es auch schon lange vor den geschilderten Ereignissen Vorfälle dieser Art. Meine Schulzeit im damaligen „altsprachlichen Gymnasium „ war von 1961 bis 69. Es muss in den ersten vier oder fünf Jahren gewesen sein, als ein anderes Mitglied des damaligen Kollegiums ebenfalls wegen derartiger Übergriffe auffällig geworden war, es wurde aber nur unter der Hand sehr gschamig darüber geredet. Der Lehrer, kein Priester oä, verschwand plötzlich und unerwartet von der Bildfläche.

     
  4. 6

    Vielen Dank, Wolfgang P.!

    (Hier finde ich die Anonymität natürlich richtig und wichtig.)
    Unglaublich, dass derlei erst jetzt öffentlich bekannt wird.

    @Max Knippert
    Der Anteil weiblicher Täterinnen soll bei 10 bis 20 % liegen. (Laut: https://www.aufarbeitungskommission.de/service-presse/service/glossar/taeter-und-taeterinnen/ )

    Dann habe [er] gesagt, wenn er mit Priestern aus anderen Pfarreien auf Messdienerreise fahre, gehöre das selbstverständlich dazu.>

    War das so? Unglaublich.

    Dass Kinder damals schwiegen, ist verständlich. Aber was ist denn mit der Verantwortung der Erwachsenen, die es mitbekamen?

     
  5. 4

    und an seinem Todestag erinnert der liturgische Kalender auch für das Jahr 2023 an diesen […] (wie jedes Jahr am 07.12.) …

    Hier der Link dazu:
    https://www.bistum-muenster.de/startseite_seelsorge_glaube/liturgie_und_kirchenmusik/direktorium?tx_bimdirektorium_frontend%5Baction%5D=index&tx_bimdirektorium_frontend%5Bcontroller%5D=Direktorium&tx_bimdirektorium_frontend%5Bday%5D=07&tx_bimdirektorium_frontend%5Bmonth%5D=12&tx_bimdirektorium_frontend%5Byear%5D=2023&cHash=c8b6b8f281e4bdc6f65d07516cb551ec#direktorium

    Danke katholische Kirche…. Gibt es in Kleve eigentlich ein Grab […]?

     
  6. 3

    Die ganze Kirche in ihrer jetzigen Form gehört an den Pranger gestellt. Wer das alles aussitzen und Totschweigen will sollte sich zudem nicht mehr mit Steuergeldern finanzieren dürfen. Einfach nur widerlich!

     
  7. 2

    Man ist fassungslos, auch wenn man schon einiges zum Thema gehört und gelesen hat.

    Missbrauchsfälle ähneln sich und doch hat jeder Fall seine eigenen Abgründe und auch Absurditäten auf Täterseite. So auch hier.

    Wichtig ist, dass das zunächst Unsagbare in Worte gefasst wird. Worte machen es zu realem Geschehen, das ans Licht geholt wird. So war es. Das kann und muss der Öffentlichkeit zugemutet werden.

    Es ist gut, dass das auf kleveblog und anderswo öffentlich geschieht.

    Die Opfer brauchen unsere Empathie, die Täter unsere Wut. Sonst ändert sich nichts.

     
  8. 1

    Wie nähert man sich einem derartigen Thema?

    Die Tatsachen schockieren, Mitgefühl mit den Opfern, die unerträgliche Ignoranz der Institutionen wie insbesondere der Kirche. Das Unverständnis darüber, das es Mitwisser und Mitwisserinnen gab die geschwiegen und somit weggeguckt haben. Die eklige Tatsache, das 98% der Täter Männer sind und das alle 8 Minuten in Deutschland ein weiterer Mensch Opfer sexualisierter Gewalt wird sollte nicht davon ablenken das wir den Blick auf die Opfer selbst nicht verlieren. Sie haben gelitten und tun es vermutlich heute immer noch. Diese Traumata aufzuarbeiten braucht Öffentlichkeit in der Sache und Anonymität für die Betroffenen selbst.

    Ralf hat hier den Anfang für eine diesbezügliche Klever Debatte, mit seinem erstaunlich gut recherchierten Artikel, gemacht und das verdient mehr als ein Lob. Das Herr P. sich an Kleveblog gewandt hat zeigt wie wichtig ein Forum ist wo derartiges öffentlich, niederschwellig angesprochen werden kann.

    Sexueller Missbrauch ist nach wie vor tabuisiert und dies trägt so weiter dazu bei das Strukturen bestehen bleiben die Missbrauch begünstigen. Es ist zu erklären aber einfach nicht zu verstehen warum dieser sexuelle Missbrauch in Kleve (und anderswo) nicht früher öffentlich wurde. Das der Interventionsbeauftragte vom Bistum am Stein selbst Schüler war, war vermutlich der Sache zuträglich.

    Wie sollten die Verantwortlichen dieser Stadt mit diesem Thema um gehen?

    Mit Verantwortlichen meine ich in diesem Fall jeden Erwachsenen aber es stechen natürlich einige Personen durch ihre jeweiligen Funktionen in Kleve heraus. Eines sollte aber auf auf keinen Fall passieren, nämlich das es bei der Bekanntmachung bei Kleveblog und RP-Online bleibt. Die jetzt bevorstehende Debatte muss sich leider auch der Tatsache stellen, das es neben dem Tatort Kirche auch einen Tatort Schule gab.

    Herr P. beschreibt Alfons Freistühler als sexuellen Intensivtäter und sich die Anzahl der betroffenen Kinder und Jugendlichen vorzustellen die betroffen sind ist schlichtweg nicht vorstellbar.
    Nichts ist ungeschehen zu machen aber die Wiederholung zu verhindern ist möglich.