Je mehr Artikel über das Parookaville-Festival am vergangenen Wochenende anschwappten, um so sicherer erschien mir, dass sich das Ereignis eigentlich einer klassischen Form der Berichterstattung entzieht, und dennoch lieferten die Medien unverdrossen den obligatorischen Stau am Anfang, Spaßstrecken ohne Ende in der Mitte und eine Müllübersicht zum Abschluss. Hunderttausend und mehr Menschen versammeln sich in einem komplett sinnfreien, wummernden Paralleluniversum, das spätestens dann eine eigene Welt geworden ist, wenn der Besucher seine echten Euros gegen Token eingetauscht hatte, und ab da konnten dann die Einwohner der fiktiven Stadt völlig losgelöst von Steuererklärungen und Stromrechnungen, so hofften es die Veranstalter, „Kontakt mit ihrem reinen Selbst aufnehmen, wahre Verbindungen erleben und ein tiefes Gefühl von Glückseligkeit und Erfüllung verspüren“, also alles, was die spätkapitalistische Arbeitswelt einem vorenthält und der Person dann mit einer weiteren kapitalistischen Volte gnädigerweise zum Preis von ein paar hundert Euro doch noch gewährt wird.
Die Berichterstattung in den Zeitungen ist, so gesehen, natürlich auch der Versuch, noch ein Stück vom Kuchen abzubekommen, vermutlich in der vagen Hoffnung, dass junge Menschen doch noch irgendeine Fotostrecke anklicken auf der Suche nach dem einen Foto, das die 50 vorher schon abgescannten WhatsApp-Statusse noch nicht gezeigt haben.
Verwundern kann es da natürlich nicht, dass die kleveblog-Redaktion im Großen und Ganzen einen Bogen um das Ereignis geschlagen hat, man will hier ja immer gerne ein bisschen anders sein – aber dann erreichte auch diese Redaktion eine Pressemitteilung, die uns keine andere Wahl ließ, als einige grundsätzlichen Erörterungen in Angriff zu nehmen. In dem Text, einer Art Gesamtzusammenfassung, wie es im Agenturdeutsch heißt, fand sich der folgende Absatz:
„Das unvergleichliche Gesamterlebnis von PAROOKAVILLE entsteht durch die zahllosen Stadtelemente, die es zu entdecken gibt. Nach ihrer Einreise am Rathaus inklusive Pass und Stempel verschickten die Bürger:innen rund 5.000 Postkarten mit Parookaville-Stempel, schlossen in der Warsteiner Parooka-Church über 2.000 Festival-Ehen, schwammen im 500.000 Liter Freibad, genossen im PENNY Green Hang-Out rund 3.000 vegane Gerichte und feierten auf dem ING Deck an der Mainstage mit bestem Blick aus vier Metern Höhe.“
… schlossen in der Warsteiner Parooka-Church über 2.000 Festival-Ehen???
Die (etablierte) Kirche hat es zurzeit ja ohnehin schwer, aber insgesamt erscheint eine Religion, die sich auf die Biermarke Warsteiner gründet, wie ein Versprechen, dass die anderen Konfessionen vielleicht doch so etwas wie Premium-Religionen sind. Doch im Paralleluniversum scheinen derlei Qualitätserwägungen keine Rolle zu spielen, und 2000 (symbolische) Ehen in drei Tagen, da fühlt man sich an Massenhochzeiten erinnert, wie sie aus dem asiatischen Raum bekannt sind.
Eine kurze Recherche brachte in Erfahrung, dass die Braut und Bräutigam aus Parooka-Partnerschaften als Hochzeitsgabe einen Schnaps erhalten und außerdem einen Stempel im Parookaville-Pass. Wenn alle möglichen Felder bestempelt sind, gibt es Belohnungen, das ist das aus der realen Welt übernommene Rabattmarkenprinzip. Allerdings (meine ich), wenn eine Ehe nur aus Preisabschlagsgründen eingegangen wird, steht sie unter keinem guten Stern – nur real life Steuervergünstigungen sind ja im Grunde auch nichts anderes.
Warum aber überhaupt Ehe? Also Festivalehe? Die echte Ehe (von althochdeutsch ?wa ‚Gesetz‘), das zeigt ein kurzer Ausflug ins Netz, wird beschrieben als eine institutionalisierte Partnerschaft, unter anderem mit dem Ziel, sexuelle Beziehungen miteinander zu erlauben und die Nachkommenschaft zu legalisieren. Meistens Mann und Frau, mittlerweile vielfach auch gleichgeschlechtlich, warum auch nicht. Aber was fasziniert den Festivalbesucher daran – vorausgesetzt, es ist doch etwas mehr als die Sehnsucht nach einem Schnaps und einem Stempel? Sexuelle Beziehungen jedenfalls funktionieren insbesondere auf Festivalgeländen auch ohne behördliche Erlaubnis, und die Sache mit der Nachkommenschaft erscheint in diesem Zusammenhang wenig überzeugend.
Dennoch kommen dem Betrachter sofort einige andere Hypothesen in den Sinn – und sie könnten in die Zukunft weisen, bzw. den Bogen zurück von Parookaville in die reale Welt:
Erstens so eine Art Sakramentskarneval: Wir machen aus allem einen Spaß, warum nicht auch noch aus der Ehe? Vielleicht sogar mit einem leicht spöttischen Blick auf die Eltern, die sich noch an der reihenhausabbezahlenden Version einer solchen Beziehung versucht haben oder sogar daran schon gescheitert sind. Hey, schaut her, it’s fun, isn’t it? Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) § 1353, du kannst uns mal!
Zweitens die Verbindlichkeit im Unverbindlichen: Bund fürs Leben, das kann natürlich auch etwas Angst machen, wenn man sich durchs üppige Tinderangebot geswipet hat. Aber alles wild durcheinander, das bereitet dem Stabilität suchenden Menschen natürlich auch schon wieder Kopfzerbrechen. Insofern erscheint ein Treuegelöbnis für drei Tage wie ein fairer Kompromiss. Laute Musik verhindert tiefgründige konzeptuelle Diskussionen über die Beziehung, der Hausstand wird am Ende wie die Beziehung selbst einfach zurückgelassen. Die Ehe mit eingebautem Verfallsdatum wird immer mal wieder auch diesseits von Parookaville vorgeschlagen (nach x Jahren den Bund erneuern, oder Ähnliches) – womöglich ist das Festival seiner Zeit weit voraus.
Drittens schließlich die absolute Flexibilität. Auf Wikipedia ist nachzulesen, dass es auf Hawaii die Gruppenehe von mehreren Personen miteinander gab – auch so etwas ist auf Parookaville möglich. Diese Wohngemeinschaften erwachsener Menschen, wie man sie aus amerikanischen Fernsehserien kennt (Big Bang Theory, Golden Girls, Bonanza), sind im Grunde solche Gruppenehen, die angesichts des demografischen Wandels womöglich eine perfekte Möglichkeit darstellen, die sich langsam leerenden Einfamilienhäuser in Reichswalde, Donsbrüggen oder Materborn mit neuem Leben zu füllen.
Der einzige Umstand, der in diesem Zusammenhang nicht in die Geschichte passt, ist die Tatsache, dass während des Festivals traditionsgemäß auch eine echte Ehe geschlossen wird – glaubt man etwa doch an etwas aus dem Echtleben?
Die Weezer Standesbeamtin Birgit Tönnessen verheiratete in dem mit Warsteiner-Logos verzierten Pavillon in Bretterverschlagoptik, der Parookavilla-Church heißt, Alina und Iwo aus Mönchengladbach „in echt“, was ihr sogar einen Auftritt im Westdeutschen Rundfunk einbrachte, wo sie über ihre Erfahrungen als Festivalstandesbeamtin berichten durfte. Die Hochzeit war den Niederrhein Nachrichten sogar ein Foto auf Seite 1 wert, das das Brautpaar etwas verloren wirkend mit geöffneten Dosen eines bierhaltigen Erfrischungsgetränkes in der Hand zeigte. Da muss die kleveblog-Stilkritik leider einschreiten: mit einer Bierdose in der Hand heiraten – entweder ein vorweggenommenes, akzeptiertes Schicksal oder aber ganz schlechtes Karma.
Womöglich gibt es noch eine Erklärung dafür, dass Parookaville-Ehen so begehrt sind:
https://www.nrz.de/staedte/kleve-und-umland/hochzeitsfeiern-bald-unbezahlbar-dehoga-utopische-preise-id239088417.html
@ 😉 Stimmt. Aber die meisten kommen wohl aus Europa…
@3.
Da auch Parookaville mittlerweile ein internationales „Ziel“ ist, kommt es auf den „Startpunkt“ der Anreise an ……
@ 😉 Vor allem der Anfahrtsweg…
Alles hat seine Zeit …….
Eine „Hochzeit“ ist dort wahrscheinlich kostengünstiger als in Las Vegas? 😉
Als ich per Whatsapp von jemandem in meinem Alter Fotos und Videos „aus Parookaville“ erhielt, habe ich auch nicht schlecht gestaunt. Offenbar hatte ich ihre Persönlichkeit bisher nicht vollumfänglich erfasst. Besonders ein Foto gab mir zu denken, da es nach den Maßstäben einer normal ausgeprägten Eitelkeit niemals hätte verschickt werden dürfen. Nee, ich hab es jetzt… und könnte … was ich natürlich nicht mache. Ich werde es noch ein paar Mal anschauen und dann löschen.
Feiner Beitrag zu einem Phänomen mit Unterphänomenen, die sich mir in diesem Leben nicht mehr erschließen werden. Dann wäre ich lieber bei Woodstock dabei gewesen…