Schlüsselfragen

Mit einer Masche Millionen gescheffelt: Schlüsseldienst-Unternehmer Karl-Leo S. aus Geldern
Mit einer Masche Millionen gescheffelt: Schlüsseldienst-Unternehmer Karl-Leo S. aus Geldern

Es handelt sich, dies dürfte schon jetzt feststehen, um den größten Prozess des Jahres, der in der Klever Schwanenburg verhandelt wird. Vermutlich wird Staatsanwalt Hendrik Timmer eine Möbelspedition beauftragt haben müssen, um die umfangreiche Anklage zum Gericht zu transportieren.

Die Sitzungen der Wirtschaftsstrafkammer des Landgerichts Kleve unter Vorsitz von Richter Christian Henckel in diesem Fall sind bereits bis zum 10. Juli terminiert, der kleine Holzkasten vor dem Gerichtssaal A 105, der üblicherweise für die Ankündigung eines Prozesses ausreicht, wurde abmontiert, stattdessen wurde ein gutes Stück der Wand links neben der Tür tapeziert mit insgesamt acht DIN-A4-Blättern, die Termine und die zu den jeweiligen Terminen geladenen Zeugen enthalten.

Mammutprozess, dieses Wort kommt einem unwillkürlich in den Sinn. Gegenstand des Verfahrens ist indes eine handwerkliche Dienstleistung, die zum Kleinteiligsten gehört, was es im Alltagsleben so gibt – den Schlüsseldienst. Kaum ein Mensch, der nicht schon einmal auf die Hilfe eines solchen Unternehmens zurückgreifen musste, weil ihm die Tür vor der Nase ins Schloss gefallen war, weil der Schlüssel vergessen wurde oder verloren ging, oder weil das gute Stück im Schloss abgebrochen ist.

Wer kein Unternehmen persönlich kennt, sucht sich eines aus dem Telefonbuch, ob gedruckt oder online. Und da wiederum fand der Suchende (und zwar in ganz Deutschland) an relativ prominenter Stelle die „Deutsche Schlüsseldienst-Zentrale“, verbunden mit einer lokalen Rufnummer, die eine Nähe suggerierte.

In Wahrheit landeten die Anrufer jedoch in einem Callcenter, das der Unternehmer Karl-Leo S. aus Geldern aufgebaut hatte – und von dort aus wurden dann auf Provisionsbasis beschäftigte Monteure, die bestenfalls eine rudimentäre Ausbildung genossen hatten, losgeschickt, um den Schaden zu beseitigen und anschließend gründlich abzukassieren.

Die Kosten für Reparaturen lagen meistens im höheren dreistelligen Bereich, konnten im Einzelfall aber auch schon mal in die Tausende gehen. Und das Wort „Reparaturen“ trifft den Sachverhalt auch nur bedingt, ein Teil der Anklage beschäftigt sich explizit auch mit den Sachschäden, die die offenbar inkompetenten Handwerker bei ihren Einsätzen verursachten.

Der durch die lokale Telefonnummer erweckte Eindruck, die Handwerker befänden sich in Ortsnähe, war ein Trick: Das Netz der Monteure war viel zu weitmaschig, um kurze Wege gewährleisten zu können. In einem zitierten Fall, der im Kreis Kleve spielte, reiste der Monteur aus Essen an den Niederrhein an.

Dieses Gebaren erscheint unseriös, allerdings dürften viele Menschen, die einmal in der misslichen Lage waren, diese Hilfsleistung in Anspruch nehmen zu müssen, die Rechnung mehr oder minder achselzuckend und resignierend zur Kenntnis genommen haben: „So ist das halt.“

Anders Hendrik Timmer von der Staatsanwaltschaft Kleve. Der schaute sich die Handlungen des Mannes aus Geldern genauer an, und, so wie er in den Jahren zuvor die Rotlichtbetriebe im Kreis Kleve das Fürchten gelehrt hatte, fand er auch im Geschäftsmodell von Karl-Leo S. so viele Ansatzpunkte, dass es zu der monumentalen Anklage kam (in der drei einzelne Anklagen zusammengefasst wurden).

Allein deren Verlesung heute Vormittag vor Gericht, unter großer Anteilnahme von allerlei Fernsehstationen, dauerte eine halbe Stunde – aber auch nur weil zwischendurch immer wieder Sätze wie der folgende fielen: „Es folgt eine Tabelle mit 1054 einzelnen Fällen, auf deren Verlesung ich hier verzichte.“ Und Tabellen gab es reichlich in dem Dokument.

Die Fälle umfassen einen Zeitraum von zehn Jahren. In jeweils zig Einzelfällen werden dem Unternehmer (und seinem mit angeklagten Geschäftsführer) vorgeworfen, Umsatzsteuer hinterzogen, Arbeitsentgelte vorenthalten sowie Betrug und Wucher begangen zu haben.

Der Vorwurf der Umsatzsteuer-Hinterziehung gründet sich darauf, dass die Einnahmen zwischen dem Unternehmer und dem beauftragten Handwerker etwa im Verhältnis 60 zu 40 aufgeteilt wurden. Allerdings wurde der Anteil des Handwerkers nicht dem Umsatz des Unternehmens zugerechnet. Schadensumme laut Staatsanwaltschaft 5.839.072,17 Euro.

Mit dem Vorwurf nicht gezahlter Arbeitsentgelte wird juristisch der Umstand umschrieben, dass es sich bei den Monteuren nach Auffassung der Staatsanwaltschaft nicht um selbstständige Arbeitskräfte, sondern tatsächlich um angestellte Mitarbeiter des Unternehmens gehandelt hat. Wenn das Gericht dieser Auffassung folgt, hätte S. Sozialversicherungsbeiträge abführen müssen – Timmer errechnete eine Summe von 10.498.030,35 €. Mit der Fragestellung „selbständig oder angestellt“ kennt Timmer sich aus, sie war die Grundlage mehrerer Anklagen gegen die Betreiber von Bordellen, und in jedem dieser Prozesse folgte die Wirtschaftsstrafkammer im Wesentlichen der Auffassung der Staatsanwaltschaft.

Betrug und Wucher wiederum liegen nach Auffassung der Anklagebehörde vor, weil die Rechnungen überteuert waren und zudem die Arbeiten nicht sachgerecht ausgeführt wurden. Der teuerste Einsatz aus der Liste der angeklagten Arbeiten wurde mit 3167 Euro berechnet. Bei einem anderen Einsatz richtete ein Monteur laut Anklage einen Schaden in Höhe von 1238 Euro an.

Für all das möchte die Staatsanwaltschaft den Unternehmer hinter Gittern sehen – und zwar lange. Zum Prozessauftakt verlas die Kammer Aktennotizen der Staatsanwaltschaft, die Gespräche mit der Verteidigung wiedergaben. Daraus wurde ersichtlich, dass die Ankläger eine Freiheitsstrafe von mindestens vier Jahren anstreben. Für S. wäre dies die zweite Verurteilung, schon einmal war er wegen seines dubiosen Geschäftsgebarens zu einer mehrjährigen Haftstrafe verdonnert worden.

Der Prozess wird am Mittwoch fortgesetzt.

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