Kieferneckreminiszenzen

16 Jahre nach Kriegsende: Der bescheidene Traum von einer schöneren Welt
Unten links schliefen später die Kinder, oben wohnten Onkel Heinz und Tante Marga
Wilhelm de Loreyn hob im Sommer 1960 extakt 95,98 cbm Erdreich aus, Vater korrigierte die fehlerhafte Rechnung handschriftlich
Eiche rustikal geht, Neues wird kommen. Wie auch immer es aussehen mag: Viel Glück!

So viele Erinnerungen! Im Keller steht noch die Schüssel, die Mutter im Falle von Unpässlichkeiten neben das Bett stellte. Umzugskartons mit Kontoauszügen und Jacketts aus Hamburg. Die Stelle vor dem Fenster im Wohnzimmer, an der Vater den Mittagsschlaf hielt, bis er um zehn vor eins zurück zur Schreinerei radelte. Die wärmende Nachtspeicherheizung davor, längst entsorgt (Asbest). Der Teewagen, irgendwann in den sechziger Jahren angeschafft und damals vielleicht das Symbol eines bescheidenen Wohlstands, auf einem Foto ist er bereits zu sehen, und er steht immer noch in einer Ecke des Wohnzimmers. Die Esszimmertür, die meinem Bruder und mir als Fußballtor diente, als wir in einer der vielen Phasen, in denen wir vermutlich davon träumten, Berufsfußballspieler zu werden, mit Plastikbällen durch die Wohnung schossen. Das Kinderzimmer, mit dem Etagenbett (längst weg), das später, eigentlich bis zuletzt, als Telefonzimmer diente, nachdem etwa Ende der siebziger Jahre auch dieses Haus einen Anschluss erhielt (bis dahin ging man immer zum Nachbarn Knieriem, wenn tatsächlich einmal ein Anruf nötig erschien). Das Obergeschoss, in dem erst Tante Marga und Onkel Heinz wohnten (für eine kleine Miete, die wiederum zur Finanzierung des Hausbaus diente), dann eine alte Dame, und das dann, als eigene Kinderzimmer in Mode kamen, für die beiden Söhne und die Tochter freigeräumt wurde. Überall Holzdecken, wie sie damals (insbesondere von unserem Vater nach Feierabend) in so viele Räume gezimmert wurden. Türen aus Tropenholz, als noch niemand von den Verheerungen ahnte, die durch dessen Verwendung in den Ursprungsländern angerichtet wurde. Der Werkzeugkeller mit Unmengen von gelben Zollstöcken mit der Aufschrift: „Xylamon hält Holz gesund“. Mit Zimmermannsbleistiften und einem Schrank, in dem Schallplatten liegen, allen voran eine von Max Greger. Zurück ins Esszimmer, der Blick fällt auf ein Bücherregal, auch das ist schon auf den alten Bildern zu sehen, darin aus dem Bertelsmann-Verlag ein Volkslexikon mit Farbtafeln aller Länderflaggen sowie das Standardwerk „Ich sag dir alles“, in dem Flüsse der Länge nach aufgelistet werden und Staaten nach Größe und Bevölkerungszahl sortiert werden. Und mittendrin, im Format etwas herausragend und schon leicht zerfleddert, „Yoga für jeden“ von Karen Zebroff, von der Mutter zur Entspannung herangezogen, vielleicht auch schon im Kampf gegen die Trübsal in ihrem Gemüt. Alte Fotoalben zeigen die Schnappschüsse eines Lebens, die Hochzeit noch im Hause der Eltern der Mutter, erste gesellige Abende im neuen Heim, der Kirschbaum mit den Kaninchenställen in der Südostecke des Grundstücks, die Kinder kommen und spielen im Garten, aus einer Vespa wird ein Fiat 500 ein Käfer ein Passat, es wird angebaut, die Schiebetür!, Kindergeburtstage, Nachbarschaftsfeste, Familienfeiern, zu denen das gute Geschirr mit dem Goldrand aus dem Wohnzimmerschrank geholt wurde. Der Bowletopf, die Strohuntersetzer, die Likörgläser, die Schublade, in der der Jahreskalender der Tageszeitung lag sowie die Kugelschreiber und der Tesafilm in der rotblauen Plastikdose. Die Ordnung der Dinge, die über das eigene Leben hinaus Bestand zu haben scheint, bis ein Notartermin vereinbart wird, und der Ort, der von 1965 bis 1986 das eigene Zuhause war, der Ort, in dem ich die ersten Worte gesprochen und die ersten Schritte gemacht habe, und der Ort, der meinen Eltern Stolz und Selbstbewusstsein und Sicherheit gab, dieser Ort also in neuen Besitz übergeht. Mögen also all diese Räume mit neuem Glück erfüllt werden! Das Werden und Wesen der eigenen Familie aber, das fast auf den Tag genau vor 59 Jahren mit dem Ausheben einer Baugrube auf der Schmelenheide in Hau begann, muss fortan in unseren Gedächtnissen bewahrt bleiben. Ein Container steht schon in der Einfahrt bereit, um die Dinge, die das Leben waren, aufzunehmen.

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11 Kommentare

  1. 10

    Hallo Ralf,
    beim Lesen konnte ich mich gut mit den Inhalten identifizieren! Frage mich grade, wo der tolle Kicker abgeblieben ist, oder die Tischtennisplatte!
    Ja, es waren tolle Zeiten, insbesondere für die vielen Kinder! Ich denke oft darüber nach, was im Kieferneck war und derzeit davon übrig geblieben ist.
    Wie oft haben wir den Fußball hintereinander hochgehalten?
    Ja, es war eine tolle Zeit!

    Beste Grüße
    Werner

     
  2. 9

    @niederrheinstier

    „Oder sind Sie gar auf einen Container-Vermieter wie P&R hereingefallen, mmuuuhh?“

    Wenn man Kunde der Volksbank Emmerich-Rees ist, kann das durchaus passiert sein. Aber selbst die Banker sprechen nicht mehr so gerne über dieses Thema.

    @rd

    Die Stühle aus dem Esszimmer haben jedenfalls ein zweites Leben hier bei mir im Büro gefunden… 🙂

    @ Klaus van Briel

    es zeigt auf jeden Fall auch, dass am Ende des Tages man nichts mitnehmen kann, egal wieviel man vorher besessen hat.

     
  3. 8

    @4 rd
    Mmuuuh, heute ist auch wieder Märchensteuerfrei, mmuuuh. Dank dem Reverse-Charge-Verfahren, mmuuuuh!

    Auch wenn die Firma de Loreyn laut Kleveblog vor kurzem in dem Schönmackers-Konzern aufgegangen ist, mmuuuh, sind zur Zeit noch ein paar LKWs und Container im Umlauf, auf denen noch groß „de Loreyn“ steht, mmuuuuh. Konnten Sie nun nach 59 Jahren noch stilecht einen solchen „de Loreyn“-Container ordern, mmuuuh?

    Oder haben Sie einen Ãœbersee-Container von MOL, Maersk, Hanjin, Hapag Loyd, CMA CGM, China Shipping Line und so geordert, damit der Inhalt möglichst weit weg gebracht wird, mmuuuuh?

    Oder sind Sie gar auf einen Container-Vermieter wie P&R hereingefallen, mmuuuhh?

     
  4. 7

    Danke für den Artikel, Ralf! Das geht nahe, die unaufhaltsame Vergänglichkeit unseres Lebens so geschildert zu bekommen. Hat mich sehr berührt!

     
  5. 6

    Ich bin bis auf ein Jahr bei meiner Großmutter in zwei Wohnungen, die einer Bundesbehörde gehörten, aufgewachsen. Dort wohnten wir mit Familien aus verschiedenen Teilen Deutschlands zusammen, die Familienväter waren Kollegen. Wir waren die einzigen aus dem Kreis Kleve, hatten aber auch keine Verwandten direkt vor Ort. Das hat die Leute zusammen gebracht, zumal auch die Väter alle ungefähr gleich verdienten, gleiche Wohnungen hatten und fast alle zwei Kinder in gleichem oder ähnlichen Alter hatten.

    Mein Elternhaus war vor allem die zweite Mietwohnung, 72 qm, 3 Zimmer plus eine 10 qm-Mansarde eine Etage höher. Alle vier Mietparteien hatten oben eine Mansarde, dazu eine gemeinsame Toilette. Nachdem auch bei uns die Etagenbetten abgebaut wurden, nahm mein Bruder seins mit auf die neu gestaltete Mansarde, während mein Vater das Kinderzimmer in der Wohnung neu tapezierte. Die Wohnung war mein Zuhause, meine Home Base und als meine Eltern dort auszogen, als ich am Studienort nur ein kleines Zimmer in einer WG hatte, mit einem Untermietvertrag, hat mir das ganz schön zugesetzt. Umso mehr, als sie auch noch in einen anderen, 25 km entfernten Ort zu meinen Großeltern zogen. Nun hatten sie ein Haus, das für mich nie mehr als den Status eines Ferienhauses bekam, wo ich mich zeitweise aufhielt. Wenn ich zu der Zeit „nach Hause“ kam, waren da nicht mehr die Freunde schnell erreichbar, nicht mehr die gewohnte Umgebung, nicht mehr „mein“ Hallenbad in der Nähe, nicht mehr die gewohnten Wege. Alles war kompliziert geworden.

    Vor ein paar Wochen, im Juni, stand ich tatsächlich nochmal in unserer alten Wohnung, die schon lange nicht mehr der Bundesbehörde gehört und nun zum Verkauf angeboten war. Ich überlegte, sie zu kaufen, da sie nun leer war. Zumindest wollte ich es ernsthaft prüfen, immerhin auch eine Geldanlage, wie ich mir einredete. Aber als ich mich umsah, auch die aktuelle Gesamtsituation im Haus betrachtete, dachte ich plötzlich: Was will ich hier?

    Die Erinnerungen aber, die kann mir keiner nehmen. Die trägt man mit sich, egal wer nachher in den Wohnungen, Häusern lebt.

     
  6. 5

    Man dachte schon, der Autor sein in die Sommerpause gegangen, obwohl er ja nicht dazu neigt, aber stattdessen hat er sein Elternhaus ausgeräumt. Das ist eine Sache für sich …

    Die Rechnung zeigt übrigens auch etwas von der Mentalität unserer Eltern-Generation (der im Krieg aufgewachsenen) aus bodenständigen Verhältnissen: Man war korrekt und wollte nichts geschenkt haben, keinen unangemessenen Vorteil haben, so klein er auch gewesen wäre, keine Ãœbervorteilung jedweder Art. Davon können sich heute mal einige eine Scheibe abschneiden.

     
  7. 4

    @Niederrheinstier Richtig, die Mehrwertsteuer gibt es erst seit den 1.1.1968; der Satz betrug damals 10%.

     
  8. 3

    @RD
    Mmuuuh, kann es sein, mmmuhhh, dass der handschriftlich korrigierte Fehler in der Rechnung darauf zurückgeht, dass Herr Wilhelm de Loreyn, nachdem er Herrn Daute als dem anderen eine Grube gegraben hat, bei dem sprichwörtlichen Selbsthereinfallen in ebendiese Grube auf den Kopf gefallen ist und daher Schwierigkeiten mit der korrekten Berechnung von der 95,98 qm x DM 1,20 hatte, aua, mmuuuuh?
    Mmuuuh, und wo ist die Märchensteuer für diese märchenhafte Geschichte auf der Rechnung, mmuuuhh?
    Gab es 1960 noch gar keine Märchensteuer, mmuuuuh? Statt der 19%, die heute fällig wären, mmuuuuh?

     
  9. 2

    Tja, ging mir genauso. Letzten Herbst sind auch meine Eltern aus Ihrem Bungalow nach 42 Jahren ausgezogen. Viele Dinge sind nun weg, die Großmöbel wurden doch tatsächlich erst einmal übernommen. Bücher über Bücher, Geräte, was sich so ansammelt, aufgeteilt, weitergegeben, verschenkt, verkauft.
    Eine große Zäsur, auch wenn man selbst schon seit Jahren seinen eigenen Herd hat…

     
  10. 1

    Nach Krieg Zeiten, 50 Pfennig /1 DM für einen qm Grund in Materborn als die Klever große Straße noch links u. rechts mit Trümmern gesegnet war. Die Kriegsgewinnler und politischen Wendehälse die geile Kohle machten als meine Eltern froh waren mir Schuhe zu kaufen zu können. Aber wen hat das in den glorreiche 50zigern Wirtschaftswunder Zeiten noch gejuckt ? In den 60zigern war dann alles ,gerne 👏👏,vergessen 👍