Unterschätzte Orte: „Zum Erfgen“

Besser gehts nicht
Besser gehts nicht

Wer den niederrheinischen Kosmos in seiner ganzen Urgewalt erleben möchte, dem sei an einem frühen und sonnigen Sonntag Abend die Gaststätte „Zum Erfgen“ (Sommerlandstr.) empfohlen, wo in zwangloser Runde die Dorfbewohner eine improvisierte Komödie aufführen, die vom aktuellen Scheidungsrecht bis zu Gleichgewichsstörungen auf Fährüberfahrten nach Norwegen alle Probleme des modernen Daseins in lockerer Folge abhandelt. Alt- und Pilskonsum halten sich die Waage (wo gibt es das noch, Fa. Diebels?), der (äußerst umsichtige) Wirt trägt noch weißes Kurzarmhemd, und nicht zuletzt seinem Eifer ist es zu verdanken, dass der Running Gag unter den Darstellern nicht einfach so dahergequatscht wird, sondern Ausdruck echter Sorge ist: „Pass auf, wenn du über die Straße gehst!“

Gelassen erörtern die Anwesenden den aktuellen und zukünftigen Beziehungsstatus („Einen Tag vor der Goldhochzeit ziehe ich aus, dann ist gut“), werden jedoch mit einer juristisch unterfütterten Replik rasch auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt: „Das nützt gar nichts, du musst mindestens ein Jahr getrennt von Tisch und Bett gelebt haben!“ Das alles natürlich im feinsten Platt. Urlaubsreisen werden gegeneinander aufgerechnet („Du fährst doch viermal im Jahr weg!“ – „Nee, nur dreimal!“), die Gäste haben neben Vor- und Zunamen auch noch einen durchgängig verwendeten Kosenamen, dessen Entstehung sich nicht sofort erschließt („Böhnchen“), und spätestens wenn bei einem ca. 60-jährigen Mitglied der Tafelrunde als Handy-Klingelton ein laustarker, betörender Sambarhythmus erschallt und wenige Augenblicke eine von einem wie Vader Abraham aussehenden Menschen gelenkte Isetta in die Straße „Im Schlenk“ abbiegt, schaut der Zufallsgast ungläubig auf seinen Bierdeckel: erst zwei Striche, es ist also keine individuelle Sinnestrübung. Kurze Zeit später kehren Teile der Mannschaft von Rheinwacht Erfgen (?) von einer dreitägigen Moseltour zurück, bei der ausgerechnet der Glatzkopf im Bunde auf einer Tombola einen Fön gewonnen hatte (Stoff für ca. 200 Kalauer, die der beklagenswerte Gewinner alle schon mehrfach während der Zugfahrt gehört hatte), erneut wird die vorsichtige Straßenquerung angemahnt, und eine ketterauchende Sitznachbarin bestellt sich einen Salat – „aber ohne Blätter“. Den bekommt sie auch, und allein die Tatsache, dass sie von den blattlosen Pflanzenteilen, die auf ihrem Teller auszumachen sind, ihrem Mann etwas anbietet, zeigt, dass sie ein großes Herz hat. Zumal sie im bisherigen Verlauf des Sonntags nur eine Dose Suppe zu Hause gegessen hatte.

Fazit: großes Kino für kleines Geld (Eintritt frei, Mindestverzehr ein Alt/Pils (0,2 l für 1,30 Euro), Radioübertragung der Bundesliga inkl. (nur innen))

Deine Meinung zählt:

21 Kommentare

  1. 21

    Bin da alsbald zu einem Geburtstag geladen – bin mal gespannt. Kenne die Kneipe bisher nur vom Vorbeifahren.

     
  2. 20

    Vielen Dank für den netten Artikel und die gute Reklame!
    Richard und Waltraut!

     
  3. 19

    Kosenamen: Es soll Dörfer in der Tiefebene geben, die die jeweiligen Spitznamen der Fernsprechteilnehmer im Telefonbuch vermelden – von wegen der Unterscheidung. Wenn die Dorfbevölkerung mit 5 – 6 Familiennamen abgedeckt werden kann, wird der Stammbaum zum Kreis und die Teilnehmersuche („Watfönn Jansen..?) schwierig….

     
  4. 18

    Apropos „unterschätzte Orte“: da gab´s doch mal den Bericht über den Imbiss am nun schönsten Platz von Kleve 😉 DER hat die Zeichen der Zeit erkannt und saß vorige Tage auf dem Boden vor seinem Lokal und schraubte eigenhändig die Stühle und Tische für seine neue Außengastronomie zusammen. Hut ab. Da wird jetzt demnächst bei schönem Wetter noch mehr los sein, als sonst nur drinnen.

     
  5. 17

    Danke Ralf – das war auch von Dir großes Kino! Ich habe gerade Tränen gelacht über Deinen Bericht in schönster Hüsch-Tradition: Niederrhein at its best!

     
  6. 16

    @Ulli Früher WDR4, heute Antenne Niederrhein. Ein Debakel für den WDR, zweifelsohne…

     
  7. 15

    Vor 18 Jahren, also als Vater D. 60 war, gabs aber noch kein Antenne Niederrhein. Hat er vielleicht doch WDR4 gehört?

    🙂

    Oder doch vielleicht Sender Freis Pfalzdorf, Jack den Dreijer, Radio101 ?

    Hach!! Waren das noch Zeiten! 🙂

     
  8. 13

    @stopsi Oooops! Habe ich wirklich 88 geschrieben?? Zum Glück hat er kein Internet… 78 stimmt natürlich

     
  9. 12

    Hallo?!?!!?
    Vater Daute 88??
    Soweit mir bekannt ist, ist Vater Daute 1932 geboren.
    Macht rechnerisch 78!!
    Aber auch für 78 ist er noch fit.

     
  10. 11

    Also, ich habe es eher als liebevolle Darstellung des Lokalgeschehens verstanden. Nicht ganz Zille, aber in die Richtung.

     
  11. 10

    Sehr schöner Bericht, RaDau! Auch schön „Baywatch Erfgen“ untergebracht! Auf dem Bild erkenne ich sogar ein paar Leute 🙂
    Grüße an die Heimat!

     
  12. 9

    @ralf daute: Und so haben die Beteiligten das auch verstanden. Mittlerweile haben schon einige Stammgäste vom Sonntag diesen herrlichen Bericht gelesen und sich schlapp gelacht. Respekt!

    Bin der mit dem gewonnenen Heuwender von der Moseltour und kann den Unterhaltungswert am Erfgen Sonntag nachmittags nur bestätigen. Das hat schon manchmal was Kultiges und so ist nicht jeder Zufallsgast ein solcher geblieben, übrigens auch wegen der hervorragenden Küche!

    Der Bericht ist eine gelungene Abwechslung zu den manchmal sehr verbissenen politischen Diskussionen hier.

    Nochmals: Mehr davon!

     
  13. 8

    Ich hatte übrigens kein Lustigmachen rausgehört. Ich wollte nur vergegenwärtigen (passendes Wort) 🙂 wie schnell die Zeit vergeht.

    Und wenn man einmal aus den Zwanzigern raus ist, macht man sich ums Altern jeden Tag Gedanken. Besonders wenn die Altergenossen schon viel weiter sind als man selber. Aber die jungen Zeiten kommen wohl nicht wieder. 🙁

    Ich hab mir in den Monaten des Mauerfallls und der Wiedervereinigung (da war ich in der Oberstufe) immer gedacht, jetzt bist Du im besten Alter (weil jung aber doch schon erwachsen) und erlebst umwälzende Dinge mit. Aber anstatt daran teilzuhaben oder die Geschichte selbst mitzugestalten, sitzt Du hier im äussersten Westen, aber wirklich auch im allerhinterletzten Winkel, und machst nichts als wie immer brav zur Schule und zur Kirche gehn.

    Anstatt dass man die Stasizentrale mit gestürmt und vielleicht die Rosenholz-CD’s hätte in der eigenen Tasche mitgehen lassen.

    🙂

     
  14. 7

    garantiert fuhr Vadder Abraham im Messerschmitt Kabinenroller ums Eck, nicht in der Isetta !

     
  15. 6

    Äh… welcher Abijahrgang warst Du nochmal?
    Dann könnte ich mal rückrechnen ob Du sitzengeblieben bist…
    😀

    Aber das ist ja eh egal weil Du hast ja ein auf Klopapier gedrucktes Stein-Abi.
    Sebusdokumente sind hingegen in massives Gold geschlagen.

    😀

     
  16. 5

    @Ulli: In 15 Jahren und 16 Tagen. Selbst mein Vater (88) hört Antenne Niederrhein. Falls du irgendeine Art von Lustigmachen daraus gehört haben solltest – so war es ganz bestimmt nicht gemeint. Es war einfach gut und lustig.

     
  17. 3

    Ralf Daute, in 20 Jahren bist du selber 60. Das ist eine Zeitspanne von der Wiedervereingung bis jetzt. Für viele von uns doch viel zu schnell vergangen. 1990 waren die jetzt 60-jährigen 40.

    Ich glaube, dass 60-jährige nur CDU wählen und WDR4 hören, das war mal in den 70ern, vielleicht noch 80ern. Aber jetzt nicht mehr.

    Irgendwann wird es uns alle treffen. Oder wir Johann Rosenmüller schon dichtete und komponierte: „Alle Menschen müssen sterben“

    🙁

     
  18. 2

    That´s Life, wie´s sein sollte.
    Echte Dorfromantik, halt. Wunderschön.

    Herrlicher Beitrag. Beim Lesen hatte ich das Gefühl, als ob ich dabei gewesen wäre.

    Jetzt ab in die Mittagspause, habe Lust auf eine Alt und ein Pils. Lecker…

     
  19. 1

    Herrlicher Bericht…das hat ein bisschen was von Stenkelfeld…einfach mal nach „Stenkelfeld“ googeln.