Ein Mord von vor 8436 Tagen

Vor dem Landgericht Kleve läuft zurzeit ein bemerkenswerter Prozess, den ich für die Rheinische Post verfolge, der aber im Klever Lokalteil selbst nicht zu lesen ist, weil der Angeklagte aus dem Südkreis stammt. Da die Geschichte aber spannend ist, hier meine beiden bisherigen Berichte am Stück:

Lebenslang oder Einstellung – „Ausnahmefall“ vor dem Landgericht

Klever Justiz versucht zu klären, ob der in Straelen lebende Lazgin A. (46) vor 23 Jahren in seinem kurdischen Heimatort seine Mutter mit einer Pistole hinterrücks erschossen hat

Es ist nicht leicht, vor dem Landgericht Kleve ein Tötungsdelikt aufzuklären, wenn sich die Tat vor 23 Jahren und in 4000 Kilometern Entfernung ereignet hat, wenn der seit einigen Jahren in Straelen wohnende Angeklagte schweigt und Zeugen aus dem familiären Umfeld sagen, dass sie nichts sagen wollen.

Doch genau das versucht die 4. Strafkammer unter Leitung des Vorsitzenden Richters Ulrich Knickrehm seit Donnerstag in der Schwanenburg. Es handelt sich also um eine Herausforderung, und Knickrehm wird zu Prozessbeginn nicht müde zu betonen, dass hier juristisches Neuland beschritten wird: „Das ist ein Fall mit Ausnahmecharakter.“

Was aber ist am 20. April 1988 in dem Dorf Eskiyol in der türkischen Provinz Mardin, nahe der syrischen Grenze, wirklich geschehen? Und warum wird der Angeklagte erst jetzt mit den Tatvorwürfen konfrontiert? Staatsanwalt Martin Körber ist überzeugt, dass der Angeklagte Lazgin A. (46) in betrunkenem Zustand nach einem häuslichen Streit mit seinem Vater seine Mutter, die ihn offenbar ermahnt hatte, mit einer Pistole des Kalibers 9 mm erschossen hat – unvermittelt und hinterrücks durch die Wohnungstür.

Hinterrücks, das ist Heimtücke, eines der Merkmale für einen Mord. Und deshalb lautet die Anklage nicht auf Totschlag, sondern auf Mord. Anders als Totschlag, der nach 20 Jahren nicht mehr geahndet werden kann, verjährt Mord nicht – weshalb die Tötung in der Türkei nun nach 23 Jahren in Kleve verhandelt wird. Richter Knickrehm bringt die Sache auf einen einfachen Nenner: „Es können nur zwei Dinge herauskommen: Verurteilung zu lebenslanger Strafe oder Einstellung des Verfahrens.“

Der Angeklagte will sich zu den Vorwürfen nicht einlassen. Knickrehm versucht es mit Engelszungen: „Falls Sie Schuld auf sich geladen haben, wäre es gut, wenn Sie sich jetzt dazu bekennen.“ Rechtsanwalt Henry Alternberg entgegnet kühl: „Herr A. wird sich weder zur Sache noch zu seinen persönlichen Verhältnissen äußern.“

Und so droht die Gefahr, dass in dem Prozess weitgehend nach türkischer Aktenlage entschieden werden muss. Denn Lazgin A. ist im Jahre 2006 vor einem Gericht in der Türkei bereits wegen der Tat verurteilt worden – zu lebenslänglichem Zuchthaus unter erschwerten Bedingungen. Der Haken: Die Verurteilung erfolgte in Abwesenheit. Das zumindest monierte das türkische Obergericht, das deshalb den Urteilsspruch der ersten Instanz zerpflückte und kassierte.

Interessanterweise musste das türkische Gericht in Abwesenheit verhandeln, weil der Angeklagte seit 1999 auch die deutsche Staatsbürgerschaft besitzt. Deshalb wurde das Auslieferungsersuchen der türkischen Justizbehörden abgelehnt.

Der erste Tag der Verhandlung in Kleve endet damit, dass die Hoffnung der Verteidigung platzt, das Geschehen zu einem Totschlag herunterstufen zu können – womit das Delikt verjährt wäre und Lazgin A., der seit dem 31. Januar 2011 in Untersuchungshaft sitzt, das Gericht als freier Mann verlassen könnte. Nach einem nichtöffentlichen „Gespräch“ mit dem Gericht und der Staatsanwaltschaft setzte Knickrehm den Prozess wie geplant mit der Vernehmung eines Polizeibeamten fort.

Der Prozess geht am Freitag um 9 Uhr weiter.

Was ist eine Aussage wert, die 8435 Tage alt ist?

Zweiter Tag des Mordprozesses gegen einen Kurden aus Straelen: Der Neffe des Angeklagten hat große Erinnerungslücken – dabei belegt eine 23 Jahre alte Zeugenvernehmung, dass er bei der Tat dabei war

Nachdem der Zeuge mehr als eine Stunde lang eindrucksvoll den Beweis angetreten hat, dass Wahrheit nicht unbedingt in Stein gemeißelt sein muss, sondern mal so und mal so gesehen werden kann, flüchtet sich Richter Ulrich Knickrehm in Zynismus: „Wie oft ist es in Ihrem Leben schon vorgekommen, dass Ihre Schwägerin erschossen worden ist?“

Einmal. Und zwar vor 23 Jahren im Dorf Eskiyol, 4000 Kilometer von Kleve entfernt in der Türkei. Jetzt soll die 4. Strafkammer des Landgerichts Kleve den Fall aufklären. Angeklagt ist Lazgin A. (46), der nach einem Streit hinterrücks seine Mutter erschossen haben soll. Gestern, am 2. Verhandlungstag, rückte nun eine Zeugenvernehmung in den Mittelpunkt, die exakt 8435 Tage alt ist. Doch sie hat einen Vorteil: Sie erfolgte unmittelbar nach der Bluttat und könnte deshalb womöglich genauer sein als alles, was in den Jahren danach von verschiedensten Personen aus welchen Gründen auch immer an zusätzlichen Versionen zu Protokoll gegeben wurde.

„Ich war in meiner Wohnung, als ich Stimmen hörte. Die Leute heulten. Als ich rausging, habe ich Lazgin nicht gesehen. Meine Schwägerin lag vor der Treppe auf dem Rücken.“ Das war im Kern die Aussage von Sükrü A., dessen älterer Bruder damals der Ehemann des Mordopfers war. Es folgten längere Auslassungen darüber, dass die Tat in Wahrheit von einer mittlerweile verstorbenen Schwester des Angeklagten begangen worden sei, versehentlich beim Spielen mit der Schusswaffe. Der außer Landes weilende und somit für die türkische Justiz nicht greifbare Bruder sei dann fälschlicherweise der Tat bezichtigt worden, um der Schwester das Gefängnis zu ersparen („das ist so Sitte“).

Kann man das glauben?

Das Gericht hat so seine Zweifel, und es hat diese eine Aussage, die derselbe Sükrü A. am 21. April 1988, also wenige Stunden nach der Tat, bei der türkischen Polizei gemacht hat. Sie ist deutlich konkreter: Demnach seien er und der Angeklagte in den Nachmittagsstunden des Tattags in das Dorf zurückgekehrt, jeder sei zunächst in sein Haus gegangen. Plötzlich habe es im Nachbarhaus eine lautstarke Auseinandersetzung zwischen Lazgin A. und seiner Mutter gegeben. Die Mutter habe gezetert, Lazgin solle sich schämen, ausgerechnet im heiligen Fastenmonat Ramadan zu trinken und es dann auch noch zu wagen, in diesem Zustand nach Hause zu kommen.

Laut dieser Aussage griff Sükrü dann in den Streit ein. Er ging ins Nachbarhaus, wies seine Schwägerin zurecht („Das ziemt sich nicht!“) und schickte sie vor die Tür. Währenddessen holte Lazgin A. aus dem Nachbarraum eine Pistole und schoss unvermittelt zweimal in Richtung Tür. Sükrü warf sich sofort auf den Schützen, überwältigte ihn und entriss ihm die Waffe. Die Waffe, eine Pistole vom Typ Browning, Kaliber 9 Millimeter, übergab er später der Gendarmerie. Seine Schwägerin lag – von einem Projektil niedergestreckt – vor der Treppe. Sie atmete zwar noch, war aber bereits bewusstlos.

Eine deutlich andere Version, so viel ist auch dem Zeugen klar. Knickrehm zeigt ihm eine Kopie des 23 Jahre alten Protokolls. Sükrü A.: „Ja, das ist meine Unterschrift. Aber ich kann mich an kein einziges Stück erinnern.“ Und er beharrt: „Ich kann nicht sagen, was passiert ist.“ Was er wisse, sei, dass Lazgin eine Woche vor dem Vorfall ins Ausland gereist sei.

Knickrehm macht allerdings unmissverständlich deutlich, dass er die aktuelle Tatversion, nach der in Wahrheit die Schwester geschossen hat, bezweifelt und hält die 8435 Tage alte Aussage für wesentlich plausibler: „Ich glaube nicht, dass jemand, der einen Menschen verloren hat, der einem so nahesteht, die Kälte und Hartherzigkeit hat, etwas zu sagen, das nicht stimmt.“

Nächster Termin: Dienstag, 31. Mai, 9 Uhr.

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4 Kommentare

  1. 2

    Man möge dem Mann die deutsche Staatsbürgerschaft aberkennen, ihn ausweisen und die Familie der Toten über ihn „richten“ lassen …

    … es wird ihm wohl eine „gerechte“ Strafe widerfahren.

     
  2. 1

    Im Zweifel für den Angeklagten, wenn es nicht so wär, würde an jeder sch…ampel oder Strassenlaterne eine Leiche hängen